Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
auch noch beide gleichzeitig? Ich weiß, Mond muß gehen, aber ...«
»Bereue, Sünder!«
Mond fühlte mehr, wie Funkes Mundwinkel sich verkrampf ten, als daß sie es sah, während er den Kopf hob, um Daft Naim anzusehen. »Ihr Schicksal hat ein Leben lang nach ihr gerufen, Gran, wie meines nach mir. Ich hatte jedoch keine Ahnung, daß es uns auf verschiedene Wege führen würde.« Seine Hände umklammerten sein Außenweltlermedaillon wie eine Bürgschaft, und er löste sich von ihnen.
»Aber gleich nach Karbunkel!« Mehr Fluch als Protest. Gran schüttelte den Kopf.
»Das ist auch nur ein gewöhnlicher Ort.« Er grinste und umschlang beruhigend ihre Schultern. »Meine Mutter ging dorthin, und sie kam mit mir zurück. Wer weiß, womit ich zurückkehren werde. Oder mit wem.«
Mond wandte sich ab und umklammerte die Ärmel ihrer Parka, als wollte sie jemanden erwürgen.
Das kannst du mir nicht antun!
Sie ging zum Rand des Piers und schaute über die Brüstung hinab, an der seezerfressenen Steineinfassung en lang, bis zum Schiff des Händlers, das geduldig unten schaukelte. Sie atmete seufzend die klamme, schwere Luft ein, und mit ihr den Geruch des Hafens, Fisch, Salz, nasses Holz und Tang ... sie lauschte den murmelnden Stimmen unter sich, dem Ächzen und Knirschen der Takelage in der ruhelosen Flut Damit sie nicht hören konnte .. .
»Die Welt geht ihrem Ende entgegen!«
»Auf Wiedersehen, Gran.« Seine Stimme wurde durch die Umarmung gedämpft.
Plötzlich sah und hörte sie, wie das auf so schreckliche Art und Weise Vertraute einen Unterton des Fremdartigen an nahm, als sähe sie alles zum ersten Mal ... und wußte doch, daß nicht die Wirklichkeit, sondern ihre eigene Wahrnehmung sich verändert hatte. Zwei salzige Tränen liefen ihr über die Wangen und fielen zehn Meter in die Bucht hinab. Sie hörte, wie er hinter ihr, ohne den Schritt zu verlangsamen, zur Gangway ging.
»Funke!« Sie wandte sich um und verstellte ihm den Weg. Ohne ein Wort .. .?«
Funke wich zurück.
»Schon gut.« Sie machte ein ernstes Gesicht und war stolz darauf, daß ihr das auch gelang. »Ich bin noch keine Sibylle.«
»Nein. Ich weiß. Das ist aber nicht der Grund .. .« Er verstummte und schob seine gestrickte Mütze zurück.
»Aber es ist der Grund, weshalb du gehst!« Sie konnte selbst nicht eindeutig entscheiden, ob das eine Feststellung oder eine Anklage war.
»Ja.« Plötzlich senkte er den Blick. »Schätze schon.« »Funke ...«
»Aber nur zum Teil!« Er richtete sich auf. »Du weißt, daß es wahr ist, ich habe immer schon diesen Drang verspürt, Mond. « Er sah nach Norden, gegen den Wind, wo Karbunkel lag. »Ich muß herausfinden, was mir fehlt.«
»Oder wer?« Sie biß sich auf die Zunge.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wenn ich von meiner Weihe zurückkehre – wird sich nichts geändert haben, wir könnten immer noch zusammen sein!«
Ich kann beides haben, ich kann ...
»Es kann wieder so sein, wie es immer war. Wie wir es uns immer gewünscht haben ... « Aber sie konnte nicht einmal sich selbst überzeugen.
»He, Junge!« Die Stimme von unten hallte von den Piermauern wider. »Kommst du? Die Flut wartet nicht den ganzen Tag.«
»Gleich.« Funke runzelte die Stirn. »Nein, Mond. Du weißt das auch. ›Tod, eine Sibylle zu lieben ... «‹ Seine Stimme wurde immer leiser.
»Das ist reiner Aberglaube!« Ihre Blicke fingen sich. Und in diesem Augenblick erkannte sie, er teilte ihr Verständnis der Wahrheit, wie er immer alles gewußt und mit ihr geteilt hatte: Es konnte niemals mehr wie früher sein.
»Du wirst dich verändern. Auf eine Weise, wie ich mich niemals verändern kann.« Seine Finger, die das Geländer umklammerten, wurden weiß. »Ich kann nicht immer so wie jetzt hierbleiben. Auch ich muß mich verändern. Ich muß wachsen und lernen ... Ich muß lernen, wer ich wirklich bin. Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, ich wüßte es bereits. Ich dachte ... eine Sibylle zu werden, würde all meine Fragen beantworten.« Seine Augen wurden wieder von dem seltsamen Gefühl verschleiert, das sie schon gesehen hatte, als sie in jener Höhle auf der Insel der Auserwählten zu ihm zurückgekehrt war. Das Gefühl, das sie beneidete und anklagte und sie ausschloß.
»Dann geh, wenn das wirklich der Grund für dein Weggehen ist!« Doch sie verharrte, als fürchtete sie sich davor, beiseite zu treten. »Aber geh nicht aus Bitterkeit, weil du verletzt bist, oder
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