Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
zusehen, bemerkte, wie sehr er sich bemühte, nicht hinzusehen, und hatte eine perverse Freude an seinem Unbehagen. Sie zog die weiche, schwere Tunika über ihre knappe Unterwäsche und schlüpfte mit den Füßen in Pelzstiefel. Danach legte sie einen breiten Ledergürtel um die Hüften. Sie betastete die handgewebte Borte der Tunika – alle Farben des Sonnenuntergangs gegen nachtblaue Wolle. »Das ist wunderschön ... « Verwirrung bahnte sich einen Weg durch ihre finsteren Gedankengänge. Plötzlich erkannte sie, daß Borte und Verzierungen schon sehr alt sein mußten.
»Ja.« Gundhalinus Ausdruck war nicht der, den sie erwartet hatte. Doch sie konnte noch die Verlegenheit darunter erkennen und verspürte nun selbst prickelnde Scham angesichts seiner Scham.
»Gundhalinu ...«
»Nenn mich BZ. « Er warf achselzuckend seinen Eigendünkel über Bord. »Hier läuft alles auf Vornamensbasis ab.« Er deutete zu den Tieren.
Sie nickte. »BZ, wir müssen unbedingt ...« Sie verstummte, da sie jemanden den Gang herunterkommen hörte. Das Schloß klapperte, dann schwang die Tür auf. Blodwed kam herein. Sie hatte ein rosafarbenes kleines Kind bei sich und trug eine Schachtel. Sie zog die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Die Tiere regten sich und betrachteten sie mißtrauisch aus ihren Käfigen,
die
Spannung machte ihre Bewegungen eckig. Das Kind ging zu den Käfigen, wo es sich unerwartet auf den Boden setzte. Blodwed ignorierte es und kam auf sie zu.
Mond betrachtete Gundhalinu und sah das Leben aus seinen Augen schwinden, sein Gesicht wurde starr, und nur blanke Resignation blieb zurück. Blodwed allerdings strahlte, während sie die Schachtel abstellte und ihn von oben bis unten betrachtete wie ein Inquisitor. »Ich kann es kaum glauben, es geht ihm wieder gut! Sieh ...« Sie packte seinen Ärmel und zog ihn am Arm. »Ich habe eine echte Sibylle geholt, nur um dich am Leben und erhalten, Blaukehlchen.« Er riß sich los und richtete sich auf, »Jetzt kannst du mir weiter vorlesen, Blaukehlchen.«
»Laß mich in Ruhe!« Er schwang die Beine über den Verschlug und stützte den Kopf in die Hände. Er mußte plötzlich höllisch husten.
Blodwed zuckte die Achseln, blickte Mond an und kratzte sich an der Nase. »Was ist mit dir? Heute morgen hielt ich euch beide für tot.« Eine Spur Hochachtung mischte sich in ihre Stimme.
Mond nickte, bemühte sich, ihre Stimme ihrerseits unter Kontrolle zu halten. »Mir geht es gut ... Vielen Dank für die Kleidungsstücke.« Sie berührte die Tunika. »Dies ist sehr schön.« Sie konnte die Ungläubigkeit nicht ganz verdrängen.
Einen Augenblick lang strahlten Blodweds himmelblaue Augen voller Stolz. »Das ist nur altes Zeug. Es gehörte meiner Großmutter. Heute trägt keiner hier mehr so etwas. Keiner weiß mehr, wie man das macht.« Sie zupfte an ihrer schmutzigen weißen Parka, als würde sie sie wirklich vorziehen. Sie wühlte in dem Karton, bis sie einen faustgroßen Plastikwürfel gefunden hatte. Unverständliche Laute erfüllten die Luft wie Regen. Blodwed begann ein Lied zu summen, Mond erkannte, daß sie ein Radio hörte. »Hier in dieser Höhle ist der Empfang echt beschissen. Natürlich hinderte das mein Blaukehlchen nicht daran, ihn auseinanderzunehmen und einen Sender daraus zu bauen.« Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Hier ist euer Essen.« Sie stellte zwei Dosen auf den Boden. Ein plötzlicher Schrei hinter ihnen ließ Mond herumschnellen. Das Kind stand weinend vor einem Käfig und rieb sich die Hände. »Verdammt, dann streck deine Pfoten eben nicht rein! Das hier ist für dich.«
Mond ergriff eine der Dosen und riß den Deckel auf. Der Inhalt erinnerte vage an einen Fleischeintopf. Sie sah, wie Gundhalinu auch seine Dose öffnete, empfand Erleichterung. »Ist .. . er dein Bruder?« sagte sie zu Blodwed gewandt.
»Nein.« Blodwed ging wieder weg, sie verteilte Fleisch und trug eine Schachtel mit dem Bild eines Tieres darauf. Sie ging von einer gefangenen Kreatur zur anderen und gab allen zu essen. Mond beobachtete, wie die meisten bei ihrer Annäherung zurückwichen und sich erst wieder nach vorn wagten, wenn sie vorüber war.
Dann kam Blodwed stirnrunzelnd zurück und nahm mit ihrer eigenen Dose Platz. Der kleine Junge erschien neben ihr und zupfte weinend an ihrer Jacke. »Jetzt nicht!« Sie stopfte ihm einen Löffel voll Essen in den Mund. »Verstehst du etwas von Tieren?« Sie betrachtete Mond, dann, über die Schulter, die Tierkäfige.
»Nicht von
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