Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
waren. Ohne sich um die Menge zu kümmern, umkreiste der Starl, der immer noch aus tiefster Kehle grollte, den Blutward. Die Tentakel des Blutwards peitschten durch die Luft, doch er gab keinen Laut von sich, auch dann nicht, als der Starl vorsprang und einen Hautfetzen aus seinem Körper riß. Seine Tentakel schlugen wild um sich, bis sie den kleinen Kopf des Starl erfaßt und umklammert hatten. »Gift«, zischelte Tor freudestrahlend. Der Starl begann zu schreien, doch sein Schrei verhallte im gierigen Brüllen der Menge.
Gespannt wie eine Bogensehne, beugte Funke sich vor und war selbst überrascht, als der erwartete Protestschrei als Jagdgebrüll aus seiner Kehle drang. Der Starl riß sich wieder los und schlug und biß rasend vor Schmerz nach den Tentakeln und dem schlaffen Körper des Blutwards. Der Blutward taumelte, seine Tentakel zuckten hierhin und dahin – und seine eigene Unschuld über Bord werfend, konzentrierte Funke sich mit all seinen aufgewühlten Sinnen auf dieses Ballett des Todes.
Eine Ewigkeit später, aber immer noch viel zu früh, lag der Starl mit bebenden Flanken im Würgegriff der blutenden Tentakel des Blutward, der sich auf den tötenden Biß konzentrierte. Funke konnte das Weiße in seinen angstgeweiteten Augen sehen, das weiße und rote Maul war weit aufgerissen, und in der eingetretenen Stille konnte er das abgewürgte Brüllen hören, als die Scheren die Kehle fanden. Blut spritzte, einige Tropfen besudelten seinen Mantel und sein schweißnasses Gesicht.
Er fuhr zurück, rieb sich über das Gesicht und betrachtete seine blutverschmierten Hände. Und mit einemmal mußte er nicht mehr hinsehen, um zu wissen, wie der schlaffe Sack sich mit rotem Blut füllte, das der Blutward aus der aufgeschlitzten Kehle seines Opfers saugte - und plötzlich hatte er auch keine Stimme mehr, um sein Teil zu dem entbrannten Fluchen und triumphierenden Heulen beizusteuern. Er wandte das Gesicht ab, doch es gab keine Rettung vor dem überschwenglichen Wahnsinn der Menge. »Tor, ich ...«
Als er sich umwandte, erkannte er, daß sie verschwunden war: Pollux, die Frau - und mit ihnen der Sack, der seine Habseligkeiten enthielt.
»Wenn ich's dir doch sage, Sonnenscheinchen, wir haben keine Stadtarbeit für einen Sommer – du kannst keine Maschinen bedienen, du kennst den sozialen Kodex nicht, du hast keine Erfahrung.« Der Beamte betrachtete Funke durch das dünne Glas seines Schalterfensters, als hätte er einen dummen Jungen vor sich.
»Aber wie soll ich denn Erfahrungen sammeln, wenn mich keiner einstellt?« Funke sprach mit erhobener Stimme und run zelte angesichts der Resonanz in seinem Kopf die Stirn. »Gute Frage.« Der Beamte kaute an einem Fingernagel. »Das ist ungerecht.«
»Das Leben ist nun mal ungerecht, Sonnenscheinchen. Wenn du hier arbeiten willst, dann mußt du deine Klanzugehörigkeit ändern.«
»Nichts wäre mir lieber!«
»Dann geh dorthin zurück, wo du mit deinen stinkenden Fischhäuten hingehörst, und vergeude nicht die Zeit erwachsener Menschen!« Der Mann in der Reihe hinter ihm stieß ihn grob weiter. Seine Handschuhe waren mit Metallkuppen verstärkt.
Funke drehte sich um und sah, wie der Handschuh sich zu einer Faust ballte, die doppelt so groß wie seine war. Daher drehte er sich wieder um und verließ unter dem Gelächter der Anwesenden die Halle der Arbeitsvermittlung. An den Enden der Alleen dämmerte bereits ein neuer Tag herauf, der einer sturmumwölkten Nacht folgte, doch hier in der Stadt war es niemals dunkel geworden. Er hatte seine Wut und seine Verzweiflung nicht verheimlichen können, noch das Elend, als er alles wieder erbrach, was er getrunken und gesehen und getan hatte. Wie ein Toter hatte er dann schließlich auf einem Stapel feuchter Kartons geschlafen und geträumt, daß Mond auf ihn herabsähe, die alles wußte, und in deren Augen die Schuld geschrieben stand ...
Schuld!
Funke bedeckte seine schmerzenden Augen mit einer Hand, um ihr Gesicht nicht mehr sehen zu müssen.
Ganz unten am Hang der Straße lag der Hafen unter der Stadt, wie das Boot des Händlers vor Anker lag und nur darauf wartete, ihn wieder heimzubringen. Sein Magen rebellierte vor Wut und grimmigem Hunger. Im Verlauf nicht einmal eines einzigen Tages hatte er alles weggeworfen - seinen Besitz, seine Ideale und seine Selbstachtung. Nun konnte er wieder heimkriechen zu den Inseln, um dort den Rest seines Lebens unter Monds Irden den Blicken zu verbringen, denn seinen Traum
Weitere Kostenlose Bücher