Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
der obersten Schichten hilflos über die Turmwälle zu ihnen herabstarren. »Arienrhod ist von dieser Charade nicht mehr beeindruckt, als wir auch. Sie könnte nur in Gutes bewerkstelligen, nämlich daß sie uns für so dumm hält, wie wir aussehen.«
»Ja, aber was ist mit ihren primitiven Ritualen und ihrem Aberglauben, Inspektor? Das sind doch Menschen, die immer noch an Menschenopfer glauben, die sich hinter Masken verbergen und jedesmal in den Straßen Orgien feiern, wenn der Abgesandte kommt ...«
»Feiert man bei Ihnen auf Kharemough nicht auch, wenn der Premierminister alle paar Jahrzehnte mal zu Besuch kommt, und küßt ihm die Füße?«
»Das ist etwas anderes. Schließlich
ist
er ein Kharemoughi.« Gundhalinu straffte sich und schirmte sich vor Verschmutzung ab. »Außerdem sind unsere Feiern würdevoll.«
Jerusha lächelte. »Alles nur eine Frage des Ausmaßes. Und bevor Sie sich zum Richter in kulturellen Fragen aufwerfen, Sergeant, studieren Sie lieber die Ethnographien, bis Sie den kulturellen Hintergrund dieser Welt auch wirklich verstehen.« Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske offizieller Überlegenheit, die sie auch beibehielt, während sie sich an die Wachen der Königin wandte. Sie standen steif in Hab-acht-Stellung, dabei waren sie ebenso kostümiert wie die Außenweltlerpolizei. Die gewaltigen, vom Zahn der Zeit angenagten Tore öffneten sich ohne Zögern für sie.
»Ja, Ma'am. « Ihre polierten Stiefel hallten im Korridor wider, der zum Saal der Winde führte. Gundhalinu schaute bekümmert I rein. Er befand sich seit etwas weniger als einem Jahr auf Tiamat, und fast die ganze Zeit davon, war er ihr Assistent gewesen. Sie mochte ihn, und obwohl er sie auch mochte, entging ihr doch nicht, daß er auf dem besten Wege war, ein kompetenter Karriereoffizier zu werden. Aber sein Heimatplanet war Kharemough, die Hauptwelt der Hegemonie – eine Welt, die von einer Technologie beherrscht wurde, die die komplexesten künstlichen Mechanismen der ganzen Hegemonie hervorgebracht hatte. Sie argwöhnte, daß Gundhalinu der jüngste Sohn einer einflußreichen Familie war, den eiserne Erbfolgegesetze auf seiner Heimatwelt zu dieser Karriere gezwungen hatten, und er war durch und durch Technokrat. Jerusha dachte traurig daran, daß auch ein hundertmaliges Anhören der Orientierungsbänder ihn wahrscheinlich kein bißchen Toleranz lehren würde.
»Nun«, sagte sie versöhnlicher, »ich werde Ihnen einen Mann mit Maske zeigen, der wahrscheinlich alle Ihre Bedingungen erfüllt, und meine auch – und das ist Starbuck. Der ist ein Außenweltler, wer oder was er auch sonst sein mag.« Sie betrachtete die Fresken mit kalten Winterszenen in der Eingangshalle und fragte sich, wie oft die schon neu übermalt worden waren. Aber in Gedanken sah sie bereits Starbuck, der, hämisch unter seiner verdammten Henkerkapuze grinsend, rechts neben der Königin stehen und auf die Repräsentanten von Recht und Gesetz herabschauen würde.
»Er trägt aus denselben Gründen eine Maske, wie jeder andere Dieb oder Mörder auch«, sagte Gundhalinu giftig.
»Durchaus richtig. Der lebende Beweis dafür, daß keine Welt ein Monopol auf regressives Verhalten hat – und der Abschaum setzt dem Ganzen die Krone auf.« Jerusha wurde langsamer, da sie das Seufzen eines schlafenden Giganten tief in den Eingeweiden des Planeten hörte. Sie holte einmal tief Atem, um sich auf die Luftprobe vorzubereiten, die Bestandteil des Rituals jeden Palastbesuches war. Doch mehr als nur die zunehmende Kälte war dafür verantwortlich, daß sie unter ihrem Mantel fröstelte. Sie konnte die Furcht niemals überwinden, ebenso wie die Verblüffung über das Ding, das sie verursachte: der Ort, den sie ›Saal der Winde‹ nannten.
Sie sah einen Adligen, der sie am Rand des Korridors erwartete, und war froh darüber, daß die Königin es an diesem Tag nicht für nötig erachtete, sie warten zu lassen. Je weniger Zeit sie nachdenkend dastand, desto weniger Ärger würde ihr das Hinübergelangen bereiten. Das konnte bedeuten, Arienrhod war guter Laune – oder ganz einfach nur zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, um sich zusätzlich noch ihren kleinen Grausamkeiten zu widmen. Jerusha war vollkommen über das Spionagesystem informiert, das in der ganzen Stadt installiert war, besonders aber hier, im Palast. Der Königin machte es Spaß, kleinere Urteile auszusprechen, um die Opposition zu demoralisieren – und für Jerusha war es offensichtlich,
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