Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
irgendwo jenseits der zeitverschlingenden Wände der Stadt. Aber das spielte keine Rolle, in wenigen Tagen würde sie ganz von hier verschwunden sein, für immer. Und zum erstenmal machte es ihr nichts aus, andauernd dem verstreichenden Tag nachzutrauen oder auf den neuen zu warten. Auf dem Rekorder war eine Botschaft gespeichert, man bat – bat, nicht befahl – sie zu einem Treffen mit dem Obersten Richter und Mitgliedern der Delegation. Nachdem sie Arienrhods Verschwörung vereitelt hatte, nach der Festnahme von C'sunh, nachdem sie die Quelle zu heiß für jede andere Welt gemacht hatte ... nach all dem stand es mit ihrer Karriere als Blaue wieder sehr zum Besten – und mit ihrem Befinden auch.
Was machte dann aber eine Kriminelle schlafend in ihrem Gästezimmer? Sie seufzte. Beim Bastard Bootsmann, das Mädchen war nicht mehr kriminell als sie auch. Und auch nicht mehr Arienrhod. Und wen kümmerte es schon, wenn Mond für die Hegemonie gefährliche Gedanken hatte? Gundhalinu hatte recht – was konnte sie schon tun, wenn die Außenweltler sich zurückgezogen hatten? Und obwohl sie es immer noch vor sich selbst leugnen wollte, nagten die Worte des Mädchens von wegen Schuld und Strafe, sowie das Bild der Mers, immer noch wie ein Magengeschwür in ihr. Denn es stimmte – es stimmte! –, und das würde sie nie mehr verleugnen können, ebensowenig wie die Heuchelei ihrer Regierung.
Aber, verdammt, welche Regierung war
je perfekt?
Sie hatte Arienrhod aufgehalten, und wenn sie bei Mond ein Auge zudrückte, dann konnte man das als ihre Vergeltung für Tiamats Zukunft ansehen. Sie konnte sogar Funke gehen lassen, damit er Mond weiter Kummer bereiten konnte, wenn er ihr zur gewünschten Zeugenaussage verhalf. Und wenn sie ihn ziehen ließ, dann sollte das ihr Gewissen für immer reinwaschen ... Aber sie wußte, das würde nicht genügen. Sie hatte hier zu viele Dinge gesehen, die sie niemals hätte sehen sollen, und zu viele Leute, die sie charakterisiert hatte, waren aus ihrem psychologischen Schema herausgefallen.
Einige meiner besten Freunde sind Verbrecher.
Sie lächelte schmerzlich, von plötzlichem Bedauern erfüllt.
Miroe, ... Leb wohl, Miroe!
Sie hatte seit dem vom Tode verfluchten Tag am Strand nichts mehr von ihm gehört ...
Aber das ist kein Lebewohl. Nicht die Erinnerung an so eine Szene.
Sie richtete sich auf der Couch auf und schüttelte Spinnfäden ab.
Nein ... ich kann ihm sagen, daß ich Mond gefunden habe, daß es ihr gutgeht und daß Arienrhod bezahlen wird.
Ja, sie konnte ihn jetzt anrufen, solange sie noch Zeit dazu hatte, bevor sie die Leitungen unterbrachen.
Ruf ihn an, Jerusha, und sage ihm ... Lebewohl!
Sie stand auf und ging steif durch den Raum zum Telefon, ihr Magen flatterte unerwarteterweise, als hätte sie Falter verschluckt. Sie gab den Kode ein und verfluchte das unnötige Zittern ihrer Nerven, während sie darauf wartete, daß der Anruf durchgestellt wurde.
»Hallo? Hier ist Ngenets Plantage.« Zum erstenmal, seit sie sich erinnern konnte, war die Leitung völlig klar. Es war eine Frauenstimme. Jerusha hörte die Kälte in ihrer eigenen:
»Hier ist Kommandant PalaThion. Ich möchte gerne mit Ngenet sprechen.«
»Tut mir leid, Kommandant, aber der ist weg.«
»Weg? Wohin?«
Verdammt, er kann doch jetzt nicht schmuggeln!
»Das hat er nicht gesagt, Kommandant.« Die Frau schien eher verlegen als verschwörerisch zu sein. »Er hat in letzter Zeit viel um die Ohren – wir alle bereiten uns hier auf die Veränderung vor. Vor ein paar Tagen reiste er mit dem Boot ab, sagte aber keinem, wo er hinwollte.«
»Ich verstehe.« Jerusha stieß den Atem aus.
»Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja. Drei Dinge: Mond ist in Sicherheit. Arienrhod wird bezahlen. Und sagen Sie ihm ... sagen Sie ihm, ich verabschiede mich.«
Die Frau wiederholte die Nachricht sorgfältig. »Ich werde es ihm sagen. Gute Reise, Kommandant.«
Jerusha senkte den Kopf. Sie war froh, daß ihr Gesicht nicht zu sehen war. »Vielen Dank. Und Ihnen allen viel Glück.« Sie schaltete den Lautsprecher aus und wandte sich ab – sah die Muschel auf dem Sims, deren abgebrochene Auswüchse eine stumme Sprache sprachen – über das, was geschehen war und nie geschehen würde.
Es ist besser so ... besser, daß er nicht da war.
Doch plötzlich waren ihre Augen heiß und brannten. Sie blinzelte nicht, bis das Reservoir ihrer Tränen sich wieder schloß und keine einzige ihrer Kontrolle entkam.
Sie wandte sich wieder
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