Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
zum Telefon und wechselte mit aller Willensanstrengung das Thema. Gundhalinu ... sollte sie noch einmal wegen ihm anrufen? Aber sie hatte doch bereits zweimal im Krankenhaus angerufen, und immer hatte man ihr dasselbe gesagt: Er lag im Delirium, sie konnte nicht mit ihm sprechen. Sie wußten gar nicht, wie er sich in dem Zustand, in dem er sich befand, auf den Beinen hatte halten können, so krank wie er war, aber sie waren der Meinung, er würde überleben.
Beruhigend.
Sie schnitt eine Grimasse und lehnte sich gegen die Wand. Nun, vielleicht wenn sie von dem Treffen mit dem Obersten Richter zurückkehrte ... Ja, dann mußte sie ihm alles erzählen. In der Zwischenzeit aber war es besser, den großen Abwasch zu erledigen und wieder ins Hauptquartier zu gehen, bevor es Zeit für das Treffen wurde.
Sie holte ein Röllchen Iestas aus der Tasche und ging ins Bad, um zu duschen und sich umzuziehen. Mond schlief immer noch fest; ihre Erschöpfung befreite sie von den besorgten Gedanken, ob Sirus ihren Vetter aus dem Palast befreien konnte. Sie konnte immer noch nicht recht glauben, daß der Erste Sekretär der Hegemonie sich zu so etwas hergeben konnte, auch wenn Funke Dawntreader sein Sohn war – ein Sohn, den er nie gesehen hatte, und bei dem er nie ganz sicher sein konnte, ob es wirklich seiner war. Aber er war bereitwillig zu dem Treffen mit Mond gekommen, und er war wieder gegangen, bereit, es zu versuchen.
Unerklärlicher war es ihr, wie Mond Persiponës verkrüppelten Barkeeper dazu hatte bringen können, Funkes Platz einzunehmen. Götter, das Mädchen war doch kaum zwei Tage in der Stadt! Hätte sie wirklich geglaubt, Monds persönliche Anziehungskraft wäre so stark, daß Leute bereitwillig für sie starben, dann hätte sie das Mädchen sofort eingesperrt – aber es hatte Unterströmungen in der Unterhaltung zwischen dem Mädchen und den beiden Männern gegeben, die ihr verraten hatten, daß es auch noch andere Gründe für Hernes Gehen gab als nur die, die der Blick verriet, mit dem er Mond ansah – und ein Blick auf seine Beine war Beweis genug. In ihren Augen sah Herne wie ein Mann aus, dessen sich die Hegemonie am besten entledigte, sie hatte jedenfalls keine Fragen gestellt, hauptsächlich aus Angst, Antworten zu erhalten, die sie nicht tolerieren konnte.
Jerusha hörte eine Bewegung im Nebenzimmer und blickte zur Tür hinaus. Mond wankte benommen ins Zimmer. »Du kannst ruhig wieder zu Bett gehen, Sibylle. Die Zeit vergeht rascher, wenn man nicht zusieht. Und Sirus wird noch eine Weile unterwegs sein, komme, was da wolle.«
»Ich weiß.« Mond rieb sich ihr verschlafenes Gesicht, schüttelte den Kopf. »Aber ich muß mich bereitmachen, wenn ich beim Rennen dabei sein will.« Sie richtete den Kopf wieder auf, ihre Augen waren nicht mehr schläfrig.
Jerusha blinzelte. »Das Rennen der Sommerkönigin? Du?«
Mond nickte, als wollte sie sie zu dem Versuch provozieren, sie aufzuhalten. »Ich muß. Ich bin hergekommen, um das Rennen zu gewinnen.«
Jerusha war zumute, als würde jemand auf ihrem Grab herumtrampeln. »Ich dachte, du wärst wegen deines Vetters Funke gekommen.«
»Das auch.« Mond senkte den Blick. »Sie hat mich belogen. Sie wollte nie, daß ich ihn rette, sie benutzte ihn nur, damit ich ihren Plänen folgte. Aber sie kann mich nicht davon abhalten, es trotzdem zu versuchen, ihn zu retten ... Und ich kann nicht verhindern, daß sie mich zur Königin macht.«
Millennium komme!
Jerusha atmete erleichtert aus, ihr Unbehagen verschwand.
Götter, es stimmt – Sibyllen sind ein wenig verrückt. Kein Wunder, daß Arienrhod sie nicht wollte.
»Ich weiß es zu würdigen, daß du aufrichtig zu mir bist.« Sie streifte eine frische Tunika über ihren feuchten Körper und verschloß sie vorne. »Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du es versuchen willst.«
Aber wenn du gewinnst, dann sag es mir bitte nicht, ich will es nicht wissen.
48
Mond hätte es nicht für möglich gehalten, einen Raum so lang wie ihren Arm zu klären und im Trubel des Balls auch frei zu halten, während der Treibsand des Mobs dahinströmte. Aber irgendwie war Ordnung aus dem Chaos geschaffen worden, irgendwo in der scheinbar formlosen Supereinheit des Balls eine untergelegte, geordnete Struktur. Etwa eine Meile unter dem Palast hatte man einen Pfad über die ganze Länge gesäubert, und schon jetzt standen übereifrige Zuschauer mit den Rücken zu den vornehmen Fassaden der Stadthäuser. Die meisten, die einen guten
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