Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
damit, ihn wiederzusehen.
6
»Was soll das heißen, Sie wissen nicht, was mit dem Jungen passiert ist?« Arienrhod beugte sich in ihrem Sessel vor, um den kahlen, gebeugten Kopf des Händlers zu betrachten. Sie vergrub die Finger in dem weichen Polster der Couch.
»Vergebt mir, Eure Majestät!« Der Händler sah mit vor Entsetzen geweiteten Augen zu ihr auf. »Ich wußte nicht, daß Sie auch an ihm interessiert sind, und nicht nur an dem Mädchen. Ich riet ihm, zu Gadderfy in der Halbwinkelallee zu gehen, aber dorthin ging er nicht. Wenn ich die Stadt nach ihm absuchen soll ...« Seine Stimme zitterte.
»Nein, das wird nicht nötig sein.« Sie schaffte es, mit gleichgültigem Tonfall zu sprechen, denn sie wollte auf keinen Fall, daß der alte Mann sich in solche Gedanken verrannte. »Meine Methoden sind wesentlich vielversprechender als Ihre. Ich werde ihn selbst finden, wenn ich ihn benötigen sollte.«
Und ich glaube, ich werde ihn bald benötigen.
»Sie sagten, er ist wahrscheinlich hergekommen, weil ... Mond ... eine Sibylle geworden ist, er aber abgewiesen wurde?«
Wie schwer es einem doch fällt, sich selbst einen anderen Namen zu geben.
»Was erwartet er in Karbunkel zu finden?«
»Das weiß ich nicht, Eure Majestät.« Der Händler wand das dose Ende seines Ledergürtels in den Fingern. »Aber, wie ich schon sagte, sie gehörten zusammen, sie steckten immer schon zusammen. Ich vermute, sein Stolz wurde verletzt, da er nicht an dem Hokuspokus teilhaben konnte. Und sein Vater ist ein Außenweltler, er trägt dauernd dieses Medaillon ... Ich glaube, er ist einfach nur neugierig.«
Sie nickte ohne ihn anzusehen. Er hatte ihr all die Jahre vom Wachstum der beiden Kinder berichtet – unschuldiger Kinder, die durch ein unsichtbares Band verbunden waren, welches vielleicht nun benützt werden konnte, um das Mädchen nach Karbunkel zu holen, und damit weg von ihrer abergläubischen Sibyllen-Fixierung. Sie konnte es dem Mädchen nicht verübeln, daß es nach dem höchsten Gut seiner begrenzten Welt strebte, das bewies nur, wie sehr sie einander ähnlich waren. Doch ihre einseitige Einstellung hatte sie unempfänglich gemacht, als der Händler versucht hatte, sie für die Wintertechnologie zu interessieren, wenn er auch das Interesse des Jungen geweckt hatte, vielleicht wegen dessen Vater, der ein Außenweltler gewesen war. Aber wenigstens hatte Mond ihren Vetter niemals wegen seiner Liebe zur Technologie zurückgewiesen, was jeder andere Angehörige des Sommervolkes getan hätte. Das hatte Arienrhod dazu veranlaßt, ihre Beziehung zu tolerieren, immer beseelt von der Hoffnung, daß auch ein so geringer Kontakt mit der Technologie mit dazu beitragen würde, Mond auf ihr Schicksal vorzubereiten. Wenigstens war sie nicht von ihm schwanger geworden – denn sogar die Sommerleute kannten Verhütungsmittel und wußten, sie auch auch anzuwenden. Wenn er hier im Palast wäre, und sie erwarten würde ...
»Sind Sie sicher, daß Mond gerade bei diesen Sibyllen auf der Insel ›studiert‹? Wird sie dort sicher sein?«
»Wie überall beim Sommervolk, Eure Majestät. Wahrscheinlich sicherer. Es könnte sogar sein, daß sie bereits wieder auf Neith ist, wenn ich dort ankomme.«
»Und Sie sagen, keine der Sibyllen, die Sie gesehen haben, ist geistesgestört?« Ihre Stimme brach. Sie hatte gehofft, das Mädchen herbringen zu können, bevor es überhaupt mit der Sibyllenkrankheit in Berührung kam, aber das war nun unmöglich geworden.
»Nein, Eure Majestät.« Er schüttelte den Kopf. »Sie kontrollieren ihren Willen vollkommen. Mir ist keine begegnet, die das nicht vermocht hätte.« Seine Furchtlosigkeit beruhigte sie.
Arienrhod betrachtete das Fresko hinter ihm an der Wand. Solange das Mädchen geistig gesund blieb, war alles andere egal. Die Krankheit konnte sogar eine Hilfe sein, ein Schutz, wenn das Sommervolk ihr wegen ihr vertraute. Sie sah den Händler wieder an. »Dann werden Sie ihr eine Botschaft ihres Vetters übermitteln, die ich aufsetzen werde. Ich möchte, daß sie nach Karbunkel kommt.« Mond mußte aus freien Stücken kommen, denn das Sommervolk würde es niemals tolerieren, wenn jemand eine Sibylle entführen würde.
Der Händler hielt den Kopf gebeugt. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er zuckte leicht zusammen. ›Aber, Eure Majestät ... wenn sie bereits eine Sibylle geworden ist, fürchtet sie sich vielleicht davor, die Stadt zu betreten.«
»Sie wird kommen.«
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