Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
nicht konntest, Ngenet?«
»Nenn mich Miroe. Konnten sie nicht. Wahrscheinlich erkannten sie lediglich, daß ich ein gutes Stück größer und kräftiger war, als sie selbst.«
»Hm.« Mond berührte nachdenklich das Schuppmesser an ihrem Gürtel, ihre Nackenmuskulatur entspannte sich, als sie bemerkte, daß die Blicke der Passanten nicht zu oft und nicht zu lange auf ihr ruhten.
Ngenet bog in ein enges Gäßchen ein, wo sie schließlich vor einer abgelegenen, verlassenen Taverne stehenblieben. Regenbogenfarbenes Licht fiel durch die Fenster aus buntem Glas heraus, das selbstgemalte Schild über der Eingangstür verkündete »Gasthaus zur Bösen Tat«. Er grunzte. »Elsie hatte schon immer einen seltsamen Humor.« Mond erkannte ein zweites Schild, auf dem mit roten Buchstaben »Geschlossen« stand, aber Ngenet drückte trotzdem die Klinke nieder. Die Tür ging auf, und sie traten ein.
»He, wir haben geschlossen!« Ein Berg von einer Frau zapfte hinter der Theke Bier in einen Krug. Sie starrte sie feindselig an. »Ich suche Elsevier. « Ngenet trat ins Licht.
»Oh, wirklich?« Die Frau stellte das Seidel ab und sah ihn grinsend an. »Schätze, da bist du richtig. Warum hat es so lange gedauert?«
»Maschinenschaden. Hat sie gewartet?«
»Sie ist immer noch in der Stadt, wenn du das meinst. Aber sie schaut sich bereits nach anderen ... hm ... Arrangements um, denn sie dachte schon, du zeigst dich nicht mehr.« Die tief in ihren Höhlen liegenden Augen der Frau musterten Mond prüfend. Sie runzelte die Stirn.
Ngenet fluchte. »Verdammt nochmal! Sie weiß doch, wie zuverlässig ich bin!«
»Aber sie wußte nicht, ob du nicht vielleicht auf Dauer verhindert bist, wenn du verstehst, was ich meine. Wer ist das?«
»Eine Anhalterin.« Mond spürte Ngenets Hand erneut auf ihrem Arm. Auf sein Drängen hin trat sie zögernd vorwärts. »Sie wird keinen Ärger machen«, sagte er, um den Zweifeln der Frau die Grundlage zu nehmen. »Nicht wahr?«
Mond sah ihm ins Gesicht. »Ich?« Sie schüttelte den Kopf, erntete den Hauch eines Lächelns dafür.
»Ich werde nochmal weggehen, um nach meiner Bekannten Ausschau zu halten. Du kannst inzwischen hier auf mich warten.« Er deutete mit dem Kinn auf einen der Tische im Raum. »Dann können wir uns vielleicht über Karbunkel unterhalten.«
»Na gut.« Sie entschied sich für einen Tisch in der Nähe des Ofens und setzte sich. Ngenet wandte sich wieder zur Tür.
»Du weißt doch wo, ja? Frag in der Nähe des Clubs!« rief ihm die Frau hinterher.
»Werd' ich tun.« Er ging.
Mond erduldete das peinliche Schweigen und die fragenden Blicke der Barfrau. Sie fuhr mit dem Finger die Kratzer im Holz der Tischoberfläche nach. Schließlich zuckte die Frau die Achseln, wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam mit dem Bierkrug in der Hand näher. Mond zuckte etwas zusammen, als sie ihn vor ihr hinstellte und Schaum über die zerkratzte Tischplatte spritzte. Die Frau wandte sich wortlos wieder ab und fummelte an einer flachen schwarzen Schachtel hinter der Theke herum. Plötzlich begann jemand zu singen, mitten im Wort, mitten in der Melodie, der Rhythmus erinnerte sie an die Musik, die sie überall in den Straßen vernommen hatte.
Mond blickte verstohlen über die Schulter, aber der Raum war so leer wir zuvor. Noch leerer, denn die Barfrau schlurfte eine Treppe hinauf, einen zweiten Bierkrug in der Hand. Mond betrachtete die schwarze Schachtel. Plötzlich stellte sie sich lächelnd vor, daß sie mit Liedern und Texten vollgestopft war wie ein Sack mit Mehl oder eine Fischwanne mit Fischen. Sie trank einen Schluck von dem Bier und verzog das Gesicht. Kelpbier, sauer im Geschmack und schlecht gebraut. Sie stellte den Krug wieder ab und zog den Mantel aus. Im Ofen sah sie einen einzigen Metallstab, der rotglühend war wie das Eisen in einem Schmiedefeuer. Sie wandte sich um, ihre Finger betasteten die Tierköpfe, die in die Lehne des Stuhls eingeschnitzt waren, während sie die Hitze und die Musik in sich aufnahm. Sie begann mit dem Fuß zu wippen, eine merkwürdige Freude durchpulste ihren Körper. Die Harmonien waren kompliziert, der Klang laut und hämmernd, die Stimme trällerte bedeutungslose Worte. Der Effekt war überhaupt nicht mit dem vergleichbar, den Funke mit seiner Flöte erzielte – aber etwas daran war seltsam anziehend, fast so wie das geheime Lied auf der Insel der Auserwählten.
Mond schloß die Augen und trank Bier, ihr Verstand sonderte alle Erinnerungen
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