Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
umklammerte den Thron. Funke stand auf und holte seine Flöte, er bebte vor Verlegenheit und Kummer. »Eure Majestät, ich .. . darf ich gehen?« Er hielt seine blattgrünen Augen gesenkt, seine Stimme war kaum eines Flüsterns mächtig.
»Ja, geh! Ich werde nach dir rufen, wenn ich dich brauche.« Sie hob die Hand. Er verließ die Stufen zum Thron, ohne die vorschriftsmäßige Verbeugung. Sie sah ihm nach, wie er selbstvergessen davonschlurfte, sein Haar stach wie frisches Blut vom weißen Teppich ab: ein verletztes Ding, das einen Winkel braucht, in dem es sich verstecken kann, verwundet, verlassen, bloß – wunderschön.
Seit er hierher gekommen war, hatte sie gespürt, wie sich etwas in ihr regte, das die ganze Zeit geschlafen hatte. Eine Wiederauffrischung, eine Erneuerung, ein Verlangen ... Aber kein Verlangen wie sie es für Starbuck empfand oder für irgend einen ihrer vorherigen Liebhaber empfunden hatte – für dieses seelenlose Fleisch, das nur hungrig darauf war, auf die zwingenden Notwendigkeiten der Macht zu reagieren. Wenn sie Funke Dawntreader ansah, dann verspürte sie das Verlangen, diesen schlanken, kräftigen Körper neben sich im Bett zu haben und ihn an den ihren geschmiegt zu spüren. Auch wenn sie ihn ansah, dann sah sie auch sein Gesicht, das ständig neue Verwundern, die Unschuld seines Benehmens – all diese Dinge, die sie bei anderen zu verabscheuen gelernt hatte, und die sie seit Anbeginn ihrer langen Winterherrschaft in sich selbst unterdrückte und verleugnete. Er war Monds Geliebter, ihr anderer Teil, und – halb Mann, halb Knabe – weckte er die Erinnerungen an ihre eigene, längst vergessene Kindheit und rührte etwas Warmes in ihrer kalt gewordenen Seele an.
Aber er hatte nicht reagiert als sie ihm, zunächst behutsam, dann weniger behutsam, klargemacht hatte, daß sie ihn haben wollte. Er war murmelnd und fast ein wenig furchtsam zurückgewichen und hatte sich hinter seiner Liebe zu ihrem anderen Selbst verschanzt. Dort war er geblieben, so unnahbar wie Stein, und hatte all ihren Lockungen widerstanden, während die Hitze der Frustration das Feuer in ihr nur noch mehr entfacht hatte. Aber nun, nun, wo sie beide ihre Zukunft verloren hatten ... Sie bekundete ihm, zu warten und sie anzusehen.
Er blieb stehen, eine einsame Gestalt auf einem Schneefeld, und blickte zurück. Dann verzerrte ein Ausdruck gepeinigter Erkenntnis sein Gesicht, während er so dastand und sie ihn mit ihrem Blick festnagelte und dachte:
Wir haben sie beide verloren ..
Schließlich wandte er sich wieder ab und stieg langsam die Wendeltreppe empor, die zu den oberen Etagen führte.
»Und nun, da du den Fisch verloren hast, kannst du ja den Köder wegwerfen.«
Sie drehte sich zu Starbuck um, denn der neidische Tonfall seiner Stimme, wenn er von dem Jungen sprach, entging ihr nicht.
»Schaff dir diesen Sommerweichling mit seiner verdammten Flöte vom Hals, Arienrhod! Sein Anblick macht mich krank. Schick ihn wieder in die Gosse, wo er herkommt, bevor ich ... «
»Bevor du was, Starbuck? Erteilst du
mir
jetzt die Befehle?« Sie beugte sich ihm entgegen und hob das Zepter.
Er wich etwas zurück und senkte den. Kopf. »Nein, ich frage nur, Arienrhod. Ich bitte dich lediglich ... ihn wegzuschaffen. Du brauchst ihn nicht mehr, jetzt, wo das Mädchen ...«
Sie schlug das Zepter mit aller Kraft auf die Hand, die auf dem Thron lag. Er stieß einen überraschten Schmerzensschrei aus. »Ich sagte dir doch, du sollst niemals davon sprechen.« Sie preßte eine Hand vor die Augen, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Sie hatte das Spiel verloren, sie hatte es verloren! Ihr Plan, ihre Zukunft – aus und vorbei! Und nur durch diesen einen, schwerwiegenden Schicksalsschlag. Von den neun Samen, die sie ausgesät hatte, war eine makellose Blüte aufgegangen – und genau die war nun verschwunden. Und einzig und allein wegen der störenden Einmischung dieser verfluchten Außenweltler, deren Zyklus der Tyrannei sie zu durchbrechen gehofft hatte. Hätten sie von ihrem Vorhaben gewußt, sie hätten ihre Pläne kaum gründlicher durchkreuzen können. Und nun? Was sollte sie nun anfangen? Sie mußte erneut beginnen, mit einem neuen Plan, der bei weitem nicht so subtil und ausgeklügelt sein konnte – und wesentlich gefährlicher für ihre eigene Position. Aber es würde seine Zeit dauern, die Wahrscheinlichkeiten zu durchdenken .. .
In der Zwischenzeit konnte sie an den Verantwortlichen Rache nehmen. Ja, das konnte sie.
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