Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
alle Antworten, die sie benötigten, bekamen sie von ihren Maschinen.
Hier, auf einem Tisch im Nebenzimmer, hatte er den Ausgang einer solchen Maschine. Er hatte das absurde Ausmaß an Raum, das ihm die Königin zur Verfügung stellte, mit Instrumenten aufgefüllt, die redeten und sangen und sogar zuhörten, die Bilder machten und Bilder zeigten, die ihm selbst die Uhrzeit und die Entfernungen der Sterne sagen konnten. Manchmal hatte er sie auseinandergenommen, doch ihr Inhalt war unter seinen Händen zu Staub zerfallen, oder aber sie waren leer gewesen, abgesehen von ein paar Metallchips mit Mustern und Unebenheiten. Doch die Königin hatte ihn dazu ermuntert, die technischen Anlagen des Palastes zu untersuchen, sie hatte ihn sogar ins Labyrinth der Läden und Geschäfte geschickt, um noch mehr zu kaufen.
Er fragte sich immer noch, weshalb sie ausgerechnet ihn auserwählt hatte, und weshalb sie ihn für das wenige, was er ihr bieten konnte, so reichlich belohnte. Wenn es ihn auch nicht mehr so sehr wie zu Beginn verwunderte. Zuerst war ihm die Art aufgefallen, wie ihn die Königin ansah, während er für sie spielte – eine Intensität, die nichts mit der Musik zu tun hatte, und angesichts derer er sich nackt fühlte, wodurch seine Finger zu zittern begannen und unsicher wurden. Später war es dann zu Berührungen gekommen, zu geflüsterten Worten, zu Küssen und wie zufällig arrangierten Begegnungen an einsamen Orten ... Und sie ähnelte Mond so sehr, daß es ihm manchmal schwerfiel, den Blick von ihr abzuwenden, um nicht dem Verlangen zu erliegen, das sich in ihren Augen spiegelte.
Aber sie war nicht Mond, sie war die zeitlose Königin des Winters, und wenn er sie in Gegenwart der Außenweltler und Adligen sah, die bei Hofe verkehrten, dann wurde ihm das mehr und mehr bewußt. Sie hatte ein Gebaren an sich, für das Mond nicht alt genug gewesen war – Weisheit, Berechnung, die Erfahrung, die sich hinter ihrem wissenden Lachen verbarg. Überdies hatte sie Wesenszüge, die Mond niemals gezeigt haben würde und für die er kaum Namen fand – wie die namenlosen Widerspiegelungen von Mond, die er in ihr sah. Sie konnte niemals zu der in seiner Erinnerung werden, mit der er alles geteilt hatte.
Und doch waren sie einander so ähnlich, und es war so lange her ... bis eines Tages Arienrhod zur Realität wurde und Mond zum bleichen, nebulösen Abbild verblaßte. Das erweckte Furcht in ihm; die Furcht, seine eigene Identität zu verlieren, verschloß ihm den Mund, wenn sie ihre Einladungen aussprach, die er gerne angenommen hätte.
Aber nun war das letzte Tau gekappt, das ihn noch mit der Sommerhälfte seines Lebens verbunden hatte. Mond war verschwunden. Sie war weg. Er hatte keinen Grund mehr, jemals wieder zurückzukehren ... denn nun konnten sie unmöglich ihre gemeinsame Zukunft wieder herstellen. Er würde sie nie mehr wiedersehen, nie mehr an ihrer Seite liegen, wie er damals neben ihr gelegen war, auf dem weichen Teppich neben dem Ofen, beim ersten Mal, während der Wind durch die mitternächtliche Schwärze geheult und Gran friedlich im Nebenzimmer geschlafen hatte ... Nun endlich konnte er weinen. Er rollte sich herum und vergrub das Gesicht in dem weichen Kissen.
Er hörte es kaum, als jemand den Raum betrat, doch er fühlte es, ein kühler Zug beim lautlosen Öffnen und Schließen der Tür. Er setzte sich auf und rieb sich die Tränen aus den Augen. Verblüfft erkannte er die Königin und wollte sich erheben.
Doch Arienrhod legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder zurück. »Nein. Heute nacht sind wir nicht Königin und Untergebener, sondern nur zwei einsame Menschen, die jemanden verloren haben, den sie sehr liebten.« Sie setzte sich neben ihn. Ihr fließendes Gewand enthüllte eine Schulter. Sie war schlicht gekleidet, einzig ein Kollier aus geschmiedeten Blättern an einer Kette schmückte ihren Hals.
Er strich sich wieder übers Gesicht, wischte damit seine Verlegenheit, keineswegs aber seine Verwirrung, weg. »Ich ... ich verstehe nicht ... Eure Majestät.« Während sie an seiner Seite saß, kamen ihm erstmals einige Fragen zu Bewußtsein ... »Woher wußtet Ihr das? Von Mond. Von Mond und mir?«
»Nach der ganzen Zeit, die du schon hier verbringst, fragst du mich immer noch, woher ich mein Wissen beziehe?« Sie lächelte.
Er senkte den Blick und preßte die Hände über die Knie. »Aber ... warum wir? Von allen Menschen der Welt ... wir sind doch nur Sommer.«
»Hast du
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