Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
»Das bist du mir schuldig, S'eing! Verdammt!« Er beobachtete, wie der Fremde mit einer seltsamen Drehung des Rückgrats von der Wand wegsprang und das Bein eines Mannes im Fluganzug umklammerte.
Der zweite Mann war ein Frachterkapitän, schätzte er, oder etwas weniger Offizielles: es war ein schwerer Mann mit vernarbtem Gesicht. Er hüpfte plötzlich beiseite und schüttelte den Liegenden grob ab. Funke sah zu, wie der andere Mann hilflos auf der Straße liegenblieb und erkannte mit plötzlichem Schock, daß seine Beine gelähmt waren. Der narbige Offizier lachte ein Lachen, wie er niemals mehr eines hören wollte. »Einen Scheißdreck bin ich dir schuldig, wenn du dir's nicht zusammenbetteln kannst.« Hernes Flüche verfolgten ihn die Allee hinab.
Der Mann namens Herne zog seine Beine auf dem Gehweg wieder zurecht und ignorierte die verstohlenen und weniger verstohlenen Blicke der Passanten. Funke stand, wie der Rest, gefesselt vom Voyeurismus des Schmerzes. Schließlich trat er zögernd vor. Der Mann versuchte, sich wieder auf seinen Sitz zu ziehen. Er sah zu ihm auf, dann ließ er sich auf das Pflaster zurücksinken.
»Du!« Haß folgte dem Erkennen wie der Tag der Nacht. »Hat sie dich hergeschickt? Hat sie dir gesagt, wo du mich finden kannst? Ja, schau dir alles ganz genau an, Junge! Mit deinen Augen, mit deinem Verstand ... und dann vergiß nie, daß sie dir eines Tages dasselbe antun wird.« Herne nahm eine Handvoll Dreck in die Hand und warf sie weg.
»Starbuck.« Er war nicht einmal sicher, ob er es laut ausgesprochen hatte, aber er war völlig sicher. »Sie ... sie sagte, Sie wären tot.« Er hatte sich vorgestellt, daß der Mann Tausende von Metern ins Meer gestürzt war, aber Plattformen und Maschinenteile ragten in den Schacht hinein. Eines davon hatte seinen Sturz aufgehalten – und ihm die Wirbelsäule gebrochen. Nun konnte er ebenso gut tot sein – aber er lebte. Funke spürte, wie plötzlich ein schwerer Druck von seiner Seele genommen wurde, der ihm erst durch sein Fehlen auffiel. »Ich bin froh ...«
Herne wand sich in vergeblicher Raserei, seine Hand griff nach Funkes Bein. »Du Sohn einer Sommerschlampe! Wenn ich dich in die Finger kriegen würde, würde ich beenden, was ich begonnen habe!« Er fiel in sich zusammen und ließ die Hände sinken. »Geh zurück und hab' deinen Spaß, Junge! Ich bin immer noch doppelt soviel wert wie du, und Arienrhod weiß das auch.«
Funke stand mit brennendem Gesicht gerade außerhalb seiner Reichweite. Die Erinnerung daran, was Herne ihm im Saal der Winde hatte antun wollen, ohne es zu erreichen, vertrieb seine Geduld, und er schwamm wie ein Fisch in einem Meer der Bitterkeit. »Du bist überhaupt kein Mann mehr, Herne, und Arienrhod gehört mir ganz alleine!« Er wandte sich um und spazierte die Allee hinab.
»Du Narr!« Hernes zorniges Lachen hallte hinter ihm her. »Arienrhod gehört niemandem. Du bist ihr Spielzeug, sie wird dich ausnützen bis sie dich satt hat ...«
Funke ging, ohne sich umzudrehen, weiter, bis er eine Straßenkreuzung erreichte. Doch er schlug nicht die Route zum Palast ein, er blieb stehen bis sein Zorn verraucht war, dann beschritt er die abwärts führende Straße. Er schritt eine ganze Weile ziellos aus, wobei er immer tiefer ins Herz des Labyrinths geriet. Er ging an Bars und Kasinos vorbei, die ihm eine zweite Heimat geworden waren, und er schaute sehnsüchtig in Schaufenster, in denen importierte Gewürze und Kräuter, Juwelen, Gemälde, Kaftane, Terminals ausgestellt waren ... ganz zu schweigen von der Vielzahl technischen Geräts, teure, künstlich hergestellte Güter für den freien Handel und die verwunderten Blicke der Einheimischen. Einst hatten ihn sämtliche Schaufenster gelockt, und ein Gang durchs Labyrinth war wie ein Gang durch den Himmel gewesen. Nun beachtete er sie kaum noch und irgendwie, ohne daß er es richtig gemerkt hatte, hatte die Zeit seine Ehrfurcht mit dem Mantel der Desillusionierung bedeckt. Der Wein seiner Verwunderung war zu Wermut geworden.
Selbst die vielfarbigen Alleen, die Stätten fruchtbaren Zusammentreffens, wo Künstler von dieser und von sieben weiteren Welten sich trafen, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen, waren fade und ihm fremd geworden, an den Rand seiner Wirklichkeit gerückt. Er wurde nicht mehr von der Musik, den Bildern und Gerüchen angezogen, unter denen er dahinschritt, und nun drückte auch noch das Wissen von Hernes lebendem Tod schmerzlich und
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