Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
»Komm, Pollux, gehen wir!«
»Wie du meinst, Tor.« Er trat aus dem Laden und folgte ihr. Sie pochte ihm wütend gegen die Brust, dann verschwanden sie in der Allee, sie rieb sich die Hand.
»Halt's Maul, du verdammter Schrotthaufen, sonst werde ich dich gegen einen Hund eintauschen.«
Fate hatte sich wieder gesetzt und dekorierte die Maske, als wäre das das einzig Reale in ihrem Universum. Sie sagte nichts zu ihm und sah auch nicht zu ihm auf.
Funkes Hochstimmung verflog augenblicklich, als er feststellte, wie sie sich von ihm zurückzog. Es war, als wollte sie sich jetzt auch noch aus seiner Wirklichkeit zurückziehen – oder als hätte er ihr das selbst abgenommen.
»Du sagtest, ich würde einen Weg finden, dieses Problem zu lösen. Wie du siehst, ist es mir gelungen.«
»Ja, sieht ganz danach aus.« Sie hob ein Stück Satinstoff auf.
»Ich dachte, du würdest keine moralischen Urteile fällen.«
»Ich bemühe mich, es nicht zu tun. Wir alle wählen unseren eigenen Pfad zur Hölle. Aber manche der Pfade sind einfacher zu beobachten als andere ... Ich sehe es nicht gern, wenn meine Freunde verletzt werden.«
»Ich sagte doch, ich werde ihr nichts tun.« Aber er wußte, einen Augenblick hatte er sehr kurz davor gestanden, und davon war Fate Zeuge geworden.
»›Was heut‹ nicht ist, wird morgen sein«, zitierte sie leise. »Außerdem betrachte ich dich auch als meinen Freund.« »Immer noch?«
»Ja, immer noch.« Sie sah ohne zu lächeln zu ihm auf. »Gib acht, Funke, das Leben besteht nicht nur aus einer einzigen Gefahr.«
»Gut.« Er zuckte die Achseln, da er sie nicht ganz verstand. »Ich werde dich wieder besuchen, Fate. «
Endlich lächelte sie wieder, aber es war nicht das Lächeln, auf das er gewartet hatte. »In einer Woche zur selben Zeit.«
»'Tschuldigung, Kumpel, hast du nich' zufällig 'n Burschen namens Herne gesehen?« Sie verstummte, als das Gesicht des Obdachlosen sich ihr zuwandte. Er starrte sie mit dem üblichen Haß des gefangenen Tieres an, da erkannte sie, daß sie ihn schon einmal gesehen hatte. Obwohl ausgezehrt und bärtig, war es doch immer noch dasselbe Gesicht: das Gesicht eines Außenweltlers, dunkelhäutig und schön, mit länglichen Augen, die so kalt wie der Tod waren. Einen Augenblick lang stand sie da und sah auf ihn herab, eingefangen zwischen Visionen der Vergangenheit und der Gegenwart. Das war Herne, derselbe Herne, dessen Augen einst in ihr keinen Menschen, sondern nur ein Ding gesehen hatten. – Doch er erkannte sie nicht, als er jetzt zu ihr aufblickte, er erkannte die Ironie ihres erneuten Zusammentreffens nicht. Sie wich ein paar Schritte vor seinem Gestank zurück, den sein zerschlissener Overall verströmte, und erinnerte sich, in welch prunkvoller Kleidung sie ihn zuletzt gesehen hatte. Vielleicht hatten die Drogen schließlich doch über ihn gesiegt ... Sie lächelte fast. Auf der Kiste neben sich hatte er eine halbvolle Flasche und eine Dose mit ein paar Münzen darin. Während sie die Allee herabgekommen war, hatte sie einen Leutnant der Blauen gesehen, der ihm die Konzession fürs Betteln gegeben hatte. Doch der erwartungsvolle Ausdruck verschwand von seinem Gesicht, als er aufsah und sie und Pollux mit einem raschen Blick bedachte. »Vielleicht kenne ich einen Herne. Kann mich nicht so recht erinnern.« Seine Hand schloß sich vielsagend um die Dose. »Warum?«
Sie griff in ihre Tasche und ließ ihr Wechselgeld in die Dose fallen. »Wie ich hörte, soll ihn das Glück verlassen haben. Vielleicht kann ich das ändern.«
»Du?« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und strich mit der Hand über den Mund. »Nochmal: Warum?«
»Das geht nur ihn und mich etwas an.« Sie überkreuzte die Arme. Das Spiel begann fast, ihr Spaß zu machen. »Also, wo ist er, sag'?«
»Ich bin Herne.« Zerknirscht.
»Du?« Sie lachte ungläubig, lachte dann weiter, weil sie eindeutig in der besseren Position war. Beweise es!«
»Schlampe!«
Sie wich zurück, als sie sich an seine brutale Kraft erinnerte, doch er glitt nur ein Stück auf der Kiste nach vorne und wäre heruntergekippt, hätte Pollux ihn nicht gestützt und wieder zurückgestoßen. Tor starrte ihn, immer noch außerhalb seiner Reichweite, an und versuchte, sich zu erinnern. »Das hat er also gemeint. Du bist ein Krüppel!«
Er verzog den Mund. »Wer? Wer hat dich hergeschickt?«
»Niemand von Bedeutung.« Sie zuckte verlegen die Achseln. »Ich will dich sprechen, Herne. Du solltest dich besser
Weitere Kostenlose Bücher