Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
dich nicht ewig halten . ..« Dann ein Schlag ins Gesicht.
Der Schmerz durchstach die Mauer ihres Wahnsinns wie eine Nadel. Sie öffnete die Augen und sah das fanatische, blutig geschlagene Gesicht des verrückten Außenweltlers vor sich, den Mann, dem sie das alles zu verdanken hatte ... den Mann, den sie ihr Leben lang lieben sollte. Aber in diesem Augenblick stand ihr nichts so fern wie die Liebe.
»Alles klar?« fragte er. Er stöhnte, als ihn jemand in die Nieren schlug. Er hielt ihre Arme fest und preßte sie gegen die Wand, wobei er sie mit seinem Körper abschirmte. Sie schüttelte den Kopf. »Habe ich dich verletzt? Das wollte ich nicht.« Er berührte mit einer Hand sanft ihre bloße Wange. Sie wich vor der Berührung zurück und zupfte behelfsmäßig den Stoff ihrer zerrissenen Gesichtsmaske über die Stelle. »Tut mir leid.« Er sah auf sie herab und wäre fest gestrauchelt, als der Wagen in eine Kurve fuhr. »Du warst nicht einmal da, um meiner Rede zuzuhören, nicht wahr?« Er grinste reuig und wirkte plötzlich kaum älter als sie selbst. Sie schüttelte wieder den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er murmelte etwas Bitteres in seiner Heimatsprache. »KR hat recht, ich schade mehr, als ich nütze ...! Keine Sorge, sie werden dir nichts tun. Wenn wir zur Inquisition kommen, werden sie die weißen Schäfchen von den schwarzen aussortieren und dich ziehen lassen.«
Wieder erzitterte der Wagen. Sie kannte den Ruf der Kirchenpolizei nur zu gut. Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen.
»Nicht. Bitte nicht.« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang nicht sehr lange. »Ich werde nicht zulassen, daß man dir etwas tut.« Das war absurd, aber sie klammerte sich daran, um nicht unterzugehen. »Hör zu«, sagte er, verzweifelt bemüht, das Thema zu wechseln. »Äh ... da du schon mal hier bist, möchtest du meine Rede hören? Das ist meine letzte Chance.« Schweißperlen glitzerten auf der Stirn unter seinem braunen Haar.
Sie antwortete nicht, er aber wertete das als Zustimmung und erzählte ihr während der restlichen Fahrt zum Gericht von seinen hoffnungslos idealistischen Plänen – daß alle Menschen wie Brüder zusammenleben müßten, daß Frauen dieselben Freiheiten wie die Männer haben müßten, aber auch dieselbe Verantwortung für ihre Taten ... Als der Wagen ruckartig zum Stillstand kam, war sie davon überzeugt, daß er vollkommen verrückt war - und wunderbar.
Doch dann waren die Türen aufgerissen worden, um dem grellen Tageslicht und den barschen Befehlen der Wachen Einlaß zu verschaffen, die die kläglichen Gefangenen auf den mauerumschlossenen Hof des Gefängniszentrums scheuchten. Sie waren die letzten, und er preßte ihre Hand flüchtig und sagte: »Sei tapfer, Schwester«, und dann fragte er nach ihrem Namen.
Endlich sprach sie zu ihm, konnte aber nur ihren Namen nennen, als die Wachen sie erreichten. Als sie auch mitgezerrt wurde, bekundete er protestierend ihre Unschuld, doch sie hörte, wie seine Worte in einem Stöhnen endeten. Kräftige Hände zogen sie mit sich, so daß sie nicht sehen konnte, was sie ihm antaten. Sie wurde mit den anderen in ein Gebäude geführt und sah ihn nicht wieder.
Doch drinnen wartete bereits ihr Vater, der nach einem aufgeregten Anruf ihrer Anstandsdame herbeigeeilt war, nachdem man sie in den Wagen verladen hatte. Sie lief schluchzend zu ihm, und nach vielen Beteuerungen und der Zahlung einer großen Spende an die Kirche hatte er sie weggebracht von diesem Ort des Entsetzens, bevor die Inquisitoren ihrem guten Ruf einen dauernden Schaden hatten zufügen können.
Sie war fast zwei Wochen zu Hause geblieben, denn sie hatte keine Lust verspürt, es zu verlassen. Langsam heilte ihre Furcht. Doch immer wieder dachte sie an diesen Außenweltler – um sich dann über seine Reden und seine Freundlichkeit inmitten des allgemeinen Chaos zu wundern: Sie fragte sich, ob er noch am Leben sein mochte. Obwohl sie wußte, daß sie das nie erfahren würde, daß sie ihn nie mehr wiedersehen würde, konnte sie doch sein Gesicht mit den strahlenden Augen nicht vergessen.
Trotzdem erkannte sie den Fremden nicht, der selbstbewußt auf einer Bank unter der rebenüberwachsenen Wand des Gerichtshofs saß, als ihre Mutter sie zu einem »Freier« führte und sie unsicher und verlegen in der Gegenwart des Mannes stehenließ. Er trug einen konservativen Geschäftsanzug mit dazu passendem Mantel, der Schatten eines breitkrempigen Hutes verbarg sein Gesicht
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