Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
griff nach einer der vielblättrigen lavendelfarbenen Blüten an den Ranken über ihren Köpfen und brach sie ab. Er reichte sie ihr. »Wir alle müssen einmal ste'ben. Lieber ein freies Leben führen, als für immer eingesperr' zu sein.«
Sie nahm die Blüte in beide Hände und atmete ihren Duft ein. Sie lächelte dabei mehr über ihn, als über seine Worte.
Er erwiderte das Lächeln. »Also dann, bis m'gen.« Er erhob sich steif.
»Sie gehen ...«
»Hab' ein Treffen in der Universi'ä' in Merdy. « Er strahlte sie zuversichtlich an, dann beugte er sich vertraulich zu ihr herüber. »Weiß' du, ich bin ein Agi a or von außerhalb.«
»Sie werden doch nicht . .?« Sie wagte immer noch nicht, ihn zu berühren.
»Ah-ah.« Er zog den Hut tiefer ins Gesicht. »Keine Reden mehr. Wenigs'ens nich', solange ich nich's Maul aufmachen kann ... Auf Wiederseh'n, Schwes'er.« Er hinkte über den Hof davon. Erst da fiel ihr ein, daß sie immer noch nicht seinen Namen wußte. Sie betrachtete den Propagandastapel, las:
Partner in einer Neuen Welt von TJ Aspundh.
Sie seufzte.
»Was hat er dir gegeben?« Ihre Mutter betrachtete die Flugblätter argwöhnisch.
»Oh ... Liebesgedichte.« Elsevier stopfte sie hastig in den Gürtel und schloß die Maske wieder vor dem Gesicht. »Einige davon hat er selbst geschrieben.«
»Hmm. « Ihre Mutter schüttelte den Kopf, Glöckchen klimperten. »Aber er ist ein Kharemoughi, er gab deinem Vater einen Videokomanschluß für das Recht, dich sehen zu dürfen. Mein Herr war sehr erfreut. Und schließlich kommt alles auf ihn an, nicht auf uns.«
»Warum?« Elsevier stand auf und raschelte mit den Papieren. »Warum ist das so?« – Ihre Mutter nahm ihr die Blume aus der Hand und führte sie zu den Frauengemächern zurück.
TJ kam von nun an regelmäßig zu ihnen, Respektsperson in den Augen ihrer Eltern, aber in ihrer Gegenwart wurde er zum Träumer, der sich nicht in das Mädchen verliebte, das sie war, sondern in die Frau, die sie werden konnte. Er brachte ihr noch mehr als Liebesgedichte getarnte revolutionäre Literatur, doch bevor sie die neue Welt erkunden konnte, deren Horizont er mit jedem Tag erweiterte, führten ihre anhaltenden Versuche, ihre Familie hinzuhalten, zur Entdeckung der Flugblätter, und der Kontakt mit ihm wurde ihr verboten.
»Aber du hast nicht zugelassen, daß man euch trennte.« Mond lehnte sich gegen die Lehne des Sitzes. »Bist du weggelaufen?«
»Nein, Liebes.« Elsevier schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme geduldig. »Mein Vater sperrte mich im Turmzimmer ein, denn das befürchtete er, lange bevor ich daran dachte.« Sie lächelte. »Aber TJ war nicht abzuschütteln. Eines Nachts kam er mit einem Schwebefahrzeug zurück, kletterte in mein Fenster und entführte mich.«
»Und du ...«
»Ich war rasend! Ich war nicht wirklich so entzückt, wie er – oder ich – annahm. Als ich mich entführen ließ, hatte ich damit nur einem eine Freude gemacht– ihm. Aber nun hatte er meinen guten Ruf ruiniert. In jener Nacht bin ich vor Scham fast gestorben. Aber am nächsten Morgen erreichten wir den Raumhafen, und da gab es kein Zurück mehr.« Sie ließ ihren Blick über die Stadt schweifen, als wäre sie anderswo. »So war das immer zwischen uns, ein Leben lang. Er glaubte an ›Sei gewiß, daß du recht hast, und dann leg los!‹, ich dagegen glaubte an ›Tu, was du tun mußt!‹ Aber selbst in dieser schrecklichen Nacht gab es für mich keinen Zweifel, daß er es reinen Herzens getan hatte, daß er mich auf eine Art und Weise liebte, wie ich nie in meinem Leben geliebt zu werden erwartet hatte. In späteren Jahren beschuldigte ich ihn oft scherzhaft, weil er so einen männlichkeitsdominierten Akt begangen hatte. Aber er lachte nur und versicherte mir, er habe nunmal innerhalb des herrschenden Systems gearbeitet.
Wir wurden am Raumhafen getraut, von einer dieser schrecklichen Notarmaschinen, und der Flug nach Kharemough war unsere Hochzeitsreise. Armer TJ! Wir hatten bereits die halbe Galaxis durchquert, bevor er mich berühren dürfte. Aber als ich erst einmal gelernt hatte, daß man mir mein Leben lang Lügen beigebrachte hatte – über meinen Körper, mein Leben –, da fiel es mir leichter zu glauben, daß ich einen eigenen Verstand hatte. Wir waren in vieler Hinsicht voneinander verschieden – aber unsere Seelen waren eins.« Sie seufzte.
Dunkelheit verschluckte sie unerwartet, als die Bahn in eine der durchsichtigen Speichen einfuhr, die die
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