Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Sie warf dem Schatten das Licht ihrer Überzeugung entgegen. »Ich muß!«
Elsevier hielt die Hände empor, halb entschuldigend, halb beschützend. »Nein ... nein. Ich meinte nur ... ich meinte, du kannst nicht zurück, bevor nicht Cress wieder stark genug zum Steuern des Schiffes ist.« Die Worte verhallten wie eine verpaßte Gelegenheit.
Mond runzelte unsicher die Stirn, denn Elseviers Gesicht war immer noch von einer Wolke des Zweifels verhüllt. Sie rieb sich das Gesicht, ihr Körper sackte plötzlich müde und ausgelaugt zusammen. »Ich weiß. Tut mir leid.« Ihre Hand griff nach der halbleeren Rolle Schlaftabletten auf dem Nachttisch.
»Nein.« Elseviers dunkle Hände umklammerten ihren Arm und zogen ihn zurück. »Das ist keine Lösung. Und auch durch eine Rückkehr nach Tiamat wirst du keine Lösung deiner Ängste finden, sie würden dich immer und überall hinverfolgen, wenn du nicht lernst, was eine Sibylle wirklich tut. Aber ich bin nicht klug genug, um dir das zu erklären. Aber ich kenne jemanden, der es ist. Bei sich bietender Gelegenheit werden wir hinuntergehen und meinen Schwager besuchen.« Sie nahm die Tabletten an sich. »Das hätte ich schon lange tun sollen ... aber ich bin nur eine närrische alte Frau.« Sie stand auf und lächelte über Monds Verständnislosigkeit. »Außerdem glaube ich, es wird uns allen guttun, endlich mal wieder eine richtige Welt zu betreten. Vielleicht kann Cress sogar mitkommen. Ruh dich jetzt aus, Liebes .. . und träum süß!« Sie strich sanft über Monds Wange und verließ das Zimmer.
Mond zog die Füße wieder ins Bett und strich die dünne Decke glatt, die hier zum Schlafen ausreichte. Aber es gab keine süßen Träume in der finsteren Leere, die diese Insel und ihre Welt umgab. Sie betrachtete die unverständlichen Ereignisse, die über den Bildschirm an der Wand huschten, und ihr Geist und ihr Körper schmerzten. Es gab nichts hier, an diesem fremden Ort, das ihre dunklen Träume in lichte hätte verwandeln können, wenn sie sie nicht heimgehen ließen ...
heim ...
Als sie die Lider schloß, quollen Tränen darunter hervor.
Eines Tages streifte sie im Licht des künstlichen Tages durch den Diebsmarkt, zusammen mit Elsevier und Silky und einem noch schwach auf den Beinen stehenden Cress. Zusammen mit ihnen fuhr sie mit einer überfüllten Sternenhafenbahn, in der sich genug Wesen mit finsteren Mienen aufhielten, um eine ganze Insel damit zu bevölkern. Die Raumstation passierte ein ›Fenster‹ – einen Fracht- oder Shuttlekorridor zur Oberfläche von Kharemough –, was allerdings nur alle paar Stunden einmal vorkam, denn diese Korridore lagen viele tausend Meilen auseinander, und wenn man eine Gelegenheit verpaßte, konnte es passieren, daß man einen ganzen Tag warten mußte, bis sich wieder eine ähnlich günstige Gelegenheit zur Landung bot.
Als sie die Bahn betreten hatten, waren keine Sitze freigewesen, aber ein Mann war aufgestanden und hatte ihr ohne Aufforderung seinen angeboten. Sie hatte ihn lächelnd Cress überlassen, als ein weiterer Mann aufgestanden war, damit auch sie sich setzen konnte. Statt dessen hatte sie Elsevier verlegen in den Sitz gedrängt und ihr zugeflüstert: »Glauben sie denn, ich bin so bleich, weil ich krank bin?«
»Nein, Liebes.« Elsevier hatte abwehrend und spöttisch die Stirn gerunzelt und an den Ärmeln ihres langen, gelben Gewandes gezupft. »Ganz im Gegenteil. Du solltest dein Kleid anziehen.« Sie berührte das lange, weinrote Kleidungsstück, das über Monds Arm hing.
»Aber es ist zu heiß.« Mond fühlte den Wirrwarr der Locken, die sie hochgesteckt hatte, und erinnerte sich an die unzähligen voluminösen Kleider und Sprunganzüge, die sie im zentralen Stadtbasar anprobiert und wieder weggelegt hatte. Sie hatte versucht, ihre eigenen Kleider zu tragen, nachdem sie das Schiff verlassen hatten, doch die Luft in der Station war so warm wie Blut, und daher trug sie so wenig, wie Elsevier erlaubte.
»Als ich noch jung war, wollte ich mich von Kopf bis Fuß hinter Gewändern verbergen. Das gehörte zum Geheimnis einer Frau.« Elsevier zupfte die Falten ihres losen Kaftans zurecht. Ihr Halsband mit den kleinen Glöckchen klingelte leise. »Aber was hätte ich nicht alles dafür gegeben, sie ablegen und nackt durch die Straßen hüpfen zu dürfen, wenn die feuchte Sommerhitze ihren Höchststand erreicht hatte. Aber das habe ich nie gewagt.«
Mond hielt sich an der Lehne fest, einen Schritt hinter dem
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