Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Wasserfall, der sich von der Spitze der Insel aus in den See aus Feuer ergoß. Wo die beiden Elemente aufeinandertrafen, bildeten sich Dampfschwaden, und die Luft war angefüllt mit schillernden Regenbogen. Sie flogen über das Plateau, bis Gundhalinu ihn abermals auf etwas aufmerksam machte.
»Schauen Sie!« sagte er und zeigte nach unten.
Jetzt sah auch Reede die Ruinen einer Stadt, die aus dem roten Urgestein der Insel errichtet worden war, und die man dem Zerfall anheimgegeben hatte. Als sie noch tiefer sanken, sog er scharf den Atem ein. Die Bauwerke waren nicht nur im Laufe der Zeit verwittert oder durch ein Erdbeben zerstört worden – eine viel wildere, ungestümere Macht hatte sich hier ausgetobt. Platten aus unbearbeitetem Gestein waren auf unmögliche Weise zwischen Gebäudestockwerken eingeklemmt, hier herrschte ein Gemisch aus Ordnung und Chaos; Künstliches und Natürliches waren gewaltsam durcheinandergebracht worden.
Die Stadt war in Quadranten eingeteilt und wurde durch zwei tiefe Schluchten gespalten, die sich in ihrem Zentrum kreuzten. In schieren Einschnitten im Fels sprudelten Wasserfälle, die von ferne glitzerten. Reede vergegenwärtigte sich, daß es mindestens vier Wasserfälle geben mußte; gespeist wurden sie von irgendeiner Quelle im Herzen der Insel, und aus den vier Winkeln dieser Traumwelt stürzten sie hinab in das geschmolzene Plasma
»Edhu,
seht euch das an!« murmelte Niburu.
»Geh tiefer! Wir landen.« Es überraschte ihn nicht sonderlich, daß er, und nicht Gundhalinu, den Befehl gab. Gundhalinu blickte ihn besorgt an, nickte jedoch.
Sanft setzten sie auf einem mehr oder weniger offenen Platz unweit des Stadtzentrums auf, und Niburu entriegelte die Ausstiegsluke. Soldat Saroon sprang auf die Füße; das Weiße in seinen Augen glänzte; als ihm dämmerte, was los war.
Gundhalinu legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn auf seinen Platz zurück. »Sie und Niburu bleiben im Rover. Uns droht keine Gefahr. Hier gibt es niemanden mehr.«
Saroon nickte in stummer Erleichterung, als Gundhalinu sich von ihm abwandte und zur offenen Luke ging, durch die grelles Licht hereinströmte.
»Du auch?« fragte Niburu Reede, während er Gundhalinu hinterherstarrte.
Reede nickte. »Aber du bleibst hier.« Er wußte, daß es Gundhalinu in erster Linie darum ging, allein zu sein; die Sicherheit des Rovers und Soldat Saroons Gemütsverfassung waren ihm ziemlich gleichgültig. Er setzte sich den Sonnenhelm auf und kletterte nach draußen. Hinter ihm schloß sich die Luke, und er marschierte quer über den Platz zu Gundhalinu, der stehengeblieben war und in die Runde blickte.
Als Reede ihn erreichte, hörte er, daß Gundhalinu etwas vor sich hinmurmelte; er erkannte den kaum wahrnehmbaren Singsang eines Adhani. Gundhalinu schlug die Hände vors Gesicht und preßte sie sich beinahe brutal gegen die Augen, ehe er sie wieder sinken ließ. »Götter, ja«, flüsterte er, »ich höre dich; ich sehe dich; ich erinnere mich ...«
Jählings merkte Reede, daß Gundhalinu nicht zu ihm sprach. Er spähte die emporstrebenden Ruinen hinauf, nichts sehend, nichts hörend, außer dem Wispern des Windes. Die Strenge und Kargheit dieses Ortes erzeugte in ihm Visionen von gebleichten Gebeinen, von Schiffswracks und von Dingen, die im letzten, absoluten Frieden ruhen, weil die unvollkommene Seele entwichen ist. Abermals beobachtete er Gundhalinu, und mit ernüchternder Deutlichkeit wurde ihm bewußt, daß sie beide nicht dieselben Bilder sahen. Und hätte er mit dem Teil seines Bewußtseins gelauscht, das nicht einmal eine Stimme besaß, um fragen zu können, hätte die namenlose Präsenz auch zu ihm gesprochen;
wenn ich doch nur fragen könnte...
»Gespenster?« murmelte er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam.
Gundhalinu gab ein sonderbares, ersticktes Lachen von sich. »Zu Tausenden ...« Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe sie alle, jeden Menschen, den ich einmal gekannt habe, und jeden, den ich noch kennenlernen werde. Möchten Sie wissen, wie Ihre Zukunft aussieht, Reede? Wenn ich lange genug hier stehenbleibe, kann ich es Ihnen sagen.«
Reede erschrak, bis ihm klarwurde, daß Gundhalinu in übertragenem Sinne sprach. »Wie haben Sie es das erste Mal hier ausgehalten, wenn dieser Ort so auf Sie wirkt?« Er fand es immer noch unglaublich, daß ein so rationaler, disziplinierter Mensch wie Gundhalinu die Wahnsinnstat begangen hatte, in World's End einzudringen.
»Als ich das erste
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