Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
den Augen, und hörte ein Aufklatschen und angstvolles Gekreisch an der steilen, glatten Wandung widerhallen. Weit drunten im Wasser erkannte er Reede, der sich abmühte, die zappelnde Kreatur einzufangen. Endlich packte Reede den Quoll mit beiden Händen, schob ihn in sein Hemd und strampelte auf die Treppe zu, die sich wie eine Spirale nach oben schraubte.
Frauen und Mädchen mit Wasserkrügen auf dem Kopf standen da und gafften, als Reede sich auf die Plattform schwang, wo sie sich versammelt hatten; sie wichen vor ihm zurück, während er taumelnd auf die Füße kam und sich anschickte, die vielen Stufen hinaufzuklettern. Kedalion und Reede beobachteten seinen Anstieg mit dem Quoll unter dem Hemd, der sich vergebens zu befreien versuchte.
Endlich kam Reede wieder an die Oberfläche und ließ den Blick über die Menge wandern. Kedalion eilte zu ihm, gefolgt von Ananke. »Reede!«
Als Reede seinen Namen hörte, drehte er sich um. Er wartete auf der obersten Treppenstufe, bis sie bei ihm waren. Kedalion fiel auf, daß er kein bißchen außer Atem war – Reede verfügte über mehr Kraft und Ausdauer als drei Männer zusammen. Wasser tropfte aus seinem Haar und von den Kleidern, Arme und Brust waren übersät mit blutigen Kratzern und Bissen, die der rasende Quoll ihm zugefügt hatte.
»Bishada!«
triumphierte Ananke und grinste breit vor Dankbarkeit und Ehrfurcht.
Reede sah den hingerissenen Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen und schnitt eine Grimasse. »Nein,
du
hast das verdammte Ding gerettet«, behauptete er. Er faßte in sein Hemd, zog das Tier heraus und reichte es Ananke. »Da hast du ihn. Mittlerweile kennst du ja die Regeln. Du hast ihn gerettet, also gehört er dir. Von jetzt an bist du für ihn verantwortlich, nicht ich.«
Ananke nahm den Quoll behutsam in die Arme und gab acht, daß die langen Nagezähne seine Hände nicht erreichten. Durch seine Bekleidung geschützt, drückte er ihn gegen die Brust und sprach beruhigend auf ihn ein. Dann blickte er Reede noch einmal kurz an und murmelte leise: »Danke.«
Doch Reede nahm schon keine Notiz mehr von ihm. Abrupt wandte er sich von Kedalion und dem Jungen ab, schob sich an ein paar Einheimischen vorbei und schnappte sich einen Bengel aus der gaffenden Menge. Er schleppte ihn an den Rand der Zisterne, und ehe der Bursche wußte, wie ihm geschah, schleuderte Reede ihn hinein.
Kedalion hörte, wie der Junge schrie, und dann den Aufprall auf das Wasser. Das Ganze war so schnell gegangen, daß er den Jungen gerade noch als einen der Rohlinge wiedererkannte, die den Quoll gepeinigt hatten; er war derjenige, der ihn in die Zisterne geworfen hatte.
Weder nach rechts noch nach links schauend, kam Reede zu ihnen zurück. Mit ausdrucksloser Miene betrachtete er den Quoll. Er hatte aufgehört, sich zu wehren, und vergrub sich in die Falten von Anankes Gewand, leise, quiekende Geräusche von sich gebend. Vorsichtig, als berühre er kostbaren Samt, streichelte Ananke sein zerzaustes Fell.
Reede ging weiter und gab ihnen ein Zeichen, sie sollten ihm folgen.
»Reede ...«, sagte Kedalion und mußte sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Sei still!« fuhr Reede ihm über den Mund.
»... fliegen wir zur Zitadelle zurück?« improvisierte Kedalion, als habe er diese Frage von Anfang an stellen wollen.
»Nein.« Reede blickte an sich hinab, schnitt eine Grimasse und zuckte dann die Achseln. »Ich habe noch etwas anderes vor. Setz mich am Temple Square ab. Den Abend hast du frei, ich rufe dich dann, wenn ich dich brauche.«
»Du solltest die Bißwunden behandeln lassen«, riet Kedalion. »Mögen die Götter wissen, was ein Quoll ...«
Wütend sah Reede auf ihn hinab. »Mach dir keine Sorgen um mich, Niburu«, versetzte er gereizt. »Ich bin es nicht wert.«
»Ich bin lediglich um meinen Job besorgt«, entgegnete Kedalion und versuchte, sich gleichgültig zu geben.
»Ich denke, du haßt diesen Job«, schnauzte Reede ihn an.
»Das ist richtig!« fauchte Kedalion zurück.
Reede lachte. Manchmal, wie in diesem Augenblick, klang sein Lachen so normal und natürlich, daß Kedalion richtiggehend überrascht war. »Wenn ich sterbe, erbst du meinen gesamten Besitz. So steht es in meinem Testament.«
Kedalion schnaubte durch die Nase. »Götter, steht mir bei«, murmelte er, halb in Sorge, Reede könne tatsächlich die Wahrheit gesagt haben. Er entriegelte die Türen des Hovercraft.
Reede grinste, und als die Türen sich hoben, kletterte er auf den
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