Tief im Hochwald - Kriminalroman
allein in der Höhle sein durfte, ohne die anderen. Jahrelang ging das so. Bis die Zwillinge endlich im Kommunionsunterricht waren, da hat der Pastor von uns anderen endlich abgelassen und sich überwiegend mit denen beschäftigt.«
»Und heute möchten Sie sich dafür rächen?«, fragte Charlotte.
Trost hatte das Feuerzeug neben sich gelegt, den Kanister von sich weggeschoben und ging einige Schritte auf die Psychologin zu, sodass er rechts von den Matratzen neben dem Kerzenständer stand. »Rache? Vergeltung würde ich es eher nennen. Mein Leiden gegen sein Leiden, Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
»Finger um Finger?«, schaltete sich Vanessa wieder ein. Irgendeine Bemerkung Trosts rührte in ihrem Inneren, aber sie konnte es nicht packen.
»Sie haben den Finger schon gefunden? Das ging aber schneller, als ich dachte. Ich brauchte doch etwas, worum ich den Rosenkranz wickeln konnte, und ich musste sichergehen, dass Sie den Cache Jungblut zuordnen konnten. Tja, der Metzger.« Trost fuhr sich mit der Hand durch die Locken und kam dabei an den Haltegurt der Schweißermaske, die ihm daraufhin schmerzhaft gegen das Schlüsselbein stieß, wie man seinem Aufschrei entnehmen konnte. Er packte die Maske, riss sie sich runter und schleuderte sie den beiden Ermittlerinnen entgegen. Das Gesicht wirkte angespannt, die Pupillen waren riesengroß und die Haut vom Alkohol oder der Anspannung gerötet, wie man im flackernden Schein der Kerzen sehen konnte.
»Warum der Metzger?«, fragte Charlotte.
Trost streckte die Hand flach aus und fuhr immer wieder mit den Fingern durch die Kerzenflamme, vor und zurück, hin und her. Er schien den Schmerz gar nicht zu spüren, war völlig gefangen in seiner eigenen Welt.
»Warum Thomas Jungblut, Herr Trost?«, wiederholte Charlotte energischer.
»Tja, Sie haben das alles gar nicht verstanden, nicht wahr? Sie sind zwar die tolle Psychologin, aber das nützt nichts, wenn Sie die Menschen in Hellersberg nicht kennen. Wen oder was wollen Sie denn analysieren, wenn Sie nichts über die Menschen wissen? Wenn Sie keine Ahnung davon haben, wie wir im Hochwald so ticken?« Er hielt inne, der Geruch verbrannter Härchen breitete sich im Raum aus, bis Trost endlich die Hand zurückzog.
»Ich bin schon durch die Hölle gegangen, das bisschen Feuer macht mir nichts mehr aus«, erklärte Trost und lachte irre. »Udo war mein Freund. Ich hatte nicht viele Freunde in meinem Leben, aber Udo war ein guter Kumpel, auch wenn er ein paar Jahre jünger war als ich.« Trost schwieg, als habe er damit alles erklärt.
»Wir wissen, dass Udo ein Missbrauchsopfer war wie Sie auch, Herr Trost. Aber Sie waren stark, Sie haben das überstanden. Udo ist daran zerbrochen. Was hatte Thomas damit zu tun?«
»Da sagt man immer, Blut sei dicker als Wasser. Aber die beiden waren verwandt, und Thomas hat alles gewusst, aber er hat nie etwas gesagt. Und Udos Oma auch nicht. Wäre sie nicht von allein gestorben, hätte ich da auch nachgeholfen.«
»Aber war Thomas Jungblut damals nicht viel zu jung, um das alles zu verstehen?«, wandte Vanessa ein, die Seite an Seite neben Charlotte stand.
»Der Pastor hat sich einen Scheiß darum geschert, wie jung wir waren. Wir haben doch auch nichts verstanden. Wir haben Schnitzeljagden gemacht, der Schuster hat uns da ganz heiß drauf gemacht. Vor allem bei schlechtem Wetter oder wenn es so richtig heiß war. Und zur Belohnung durften wir anschließend in die Höhle, um uns aufzuwärmen oder uns vor der Sonne zu schützen. Und der Pastor hat uns daraufhin vorgeschlagen, die regennassen oder verschwitzten Sachen auszuziehen. Wir müssten uns nicht schämen, hat er gesagt, er würde seine Sachen auch ausziehen. Sie haben gar keine Vorstellung von den Schmerzen und von den Demütigungen, wenn man noch so jung ist und gar nicht versteht, was einem geschieht. Wenn man glaubt, es muss halt so sein, Sex tut eben immer weh.«
Er ging zwei Schritte rückwärts und wies mit dem Arm auf das Regal, das an der Wand stand. Vanessa blickte nach links und sah eine alte Spiegelreflexkamera und einen Stapel Fotos im Regal liegen und konnte sich vorstellen, was die Bilder zeigten.
»Er nannte das seine Kuschelhöhle.« Trost spuckte das Wort förmlich aus, und Vanessa sah, wie ein Speichelfaden an seinem Kinn hängen blieb und im Kerzenschein glänzte.
»Sie haben das sicher anders empfunden. Als was haben Sie den Raum für den Pastor vorbereitet?«, fragte Charlotte.
Trost wies hinter sich auf das
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