Tief im Hochwald - Kriminalroman
damit sie nicht umkippt, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, oder was meinen Sie?«
Vanessa holte tief Luft. »Wissen Sie auch schon, wer die Tote ist? Wieder eine Fremde?«
»Niemand aus Hellersberg, falls Sie das meinen, aber auch keine Unbekannte. Die alte Religionslehrerin, die gestern zum Klassentreffen kam, Frau Elfriede Ostermann.«
Vanessa versuchte, sich das Bild der Frau in Erinnerung zu rufen. Sie hatte gestern Nachmittag mit dem Künstler Rolf Trost, dem Kunstschmied Franz Schuster und dem Schreiner Uwe Lauer an einem Tisch gesessen und sehr kontrovers über moderne Kunst diskutiert, als eine alte Frau an ihren Tisch getreten war und die drei Männer begrüßt hatte. Die Lehrerin hatte an keinem ihrer ehemaligen Schüler ein gutes Haar gelassen. Den einen hatte sie renitent, den anderen faul und den dritten ungläubig genannt, und alle waren erleichtert gewesen, als Frau Ostermann zum nächsten Tisch weitergegangen war. Sie schien eine unangenehme und unbeliebte Frau gewesen zu sein, aber rechtfertigte dies einen Mord?
Der Wagen hielt vor einer kleinen Wegkapelle, die Vanessa in Hellersberg bislang gar nicht wahrgenommen hatte. Von der Straße in Richtung Holzerath führte ein kurzer Fußweg zu der Kapelle, die am Waldrand zum Verweilen einlud. Landscheid erläuterte, es sei eine Lutwinus-Kapelle in Anlehnung an die Adlerlegende. Auf der Stufe vor der offenen Seite der Kapelle blieben Vanessa und Landscheid stehen und sahen über das schmiedeeiserne Tor hinweg in den etwa zwei mal drei Meter großen Innenraum. An einer Kette, die durch die Gittertüren geschlungen war, hing ein glänzendes Vorhängeschloss. Auf einem kleinen Altar standen weiße Lilien und rechts und links des Altars große weiße Chrysanthemenbüsche. Hinter dem Altar war eine Statue des heiligen Lutwinus an der Wand angebracht, und an der Decke war ein prächtiges Fresko, das einen Adler zeigte, zu sehen. Ein wunderschöner Ort der Einkehr und Ruhe, aber nicht der ewigen Ruhe. Auf der Kniebank vor dem Altar kniete die alte Frau, die anhand ihrer Kleidung sofort zu erkennen war, aufrecht und irgendwie stolz. Die Sohlen ihrer festen Schuhe zeigten in Richtung Eingang, darüber wellten sich der dunkelblaue Faltenrock und die wärmende Trachtenjacke. Der Kopf war leicht nach vorn geneigt, als verharre sie im Gebet. Durch die Gittertür war nicht zu sehen, was Heiner Landscheid Vanessa über die Fesselung erzählt hatte, aber seitlich war ein kleines Fenster, durch das Licht in die Kapelle fiel und durch das man sehen konnte, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte.
»Wie kann sie nur da hineingekommen sein?«, fragte Vanessa. »Ist das Schloss beschädigt?«
»Nein, sie ist da ganz sicher nicht von allein rein.« Landscheid hielt Vanessa ein Paar Latexhandschuhe entgegen. Sie hörten, wie sich ein Auto näherte.
»Das wird der Schmied sein. Ich habe ihn gebeten, mir das Schloss aufzumachen. Ich hätte auch Hajo fragen können, aber Franz saß zum Frühschoppen in der ›Post‹, als ich Sie abholen wollte.«
»Gibt es keinen Schlüssel für die Kapelle?«, erkundigte sich Vanessa erstaunt, denn irgendjemand hatte vermutlich erst gestern sehr frisch aussehende Blumen auf den Altar gestellt.
»Worum geht es?« Der Schmied hatte seinen Wagen am Straßenrand geparkt und kam auf sie zu.
Vanessa und Landscheid traten zur Seite, damit Schuster an das Schloss herankäme. Mit einem Blick erfasste der Schmied die Situation.
»Sehe ich das richtig, dass das die alte Ostermann ist? Geschieht ihr recht, dem alten Drachen.«
Vanessa beäugte ihn interessiert. »Sie wissen, dass Sie sich mit solchen Äußerungen verdächtig machen, Herr Schuster?«
Schuster winkte ab. »Wenn Sie nach jemandem suchen, der die Ostermann nicht ausstehen konnte, sollten Sie von gemeinschaftlichem Mord, begangen von einem ganzen Dorf, ausgehen. Ich weiß gar nicht, wie jemand auf die Idee kommen konnte, die Alte einzuladen.«
»Das sind harte Worte, Herr Schuster. Wenn Sie uns bitte erst einmal die Tür öffnen könnten, ohne etwas zu beschädigen, würden wir uns die Leiche gern näher ansehen. Herr Landscheid«, wandte sie sich an ihren Kollegen, »haben Sie ein weiteres Paar Handschuhe für Herrn Schuster?«
Im Nu war das Schloss geöffnet, und sie konnten endlich die Kapelle betreten. Franz Schuster wollte mit in den winzigen Raum, doch Vanessa hielt ihn davon ab.
»Vielen Dank, Herr Schuster, Sie haben uns sehr geholfen. Da dies ein Tatort ist, muss
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