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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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hatte?
    Tausend Fragen schossen Anou durch den Kopf und verhinderten einen klaren Gedanken. Sie bemühte sich trotzdem, ihre Mimik unter Kontrolle zu behalten und sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Anblick sie schockierte.
    »Findest du mich schön?«, fragte er schließlich.
    Seine Stimme war fistelig und zitterte. In den Weiten der Halle klang sie trotzdem bedrohlich.
    Eine falsche Antwort, das wusste Anou, bedeutete ihren Tod.
    Was konnte sie sagen? Was durfte sie sagen? Die Wahrheit?
    Die Wahrheit war, dass sie ihn, so wie er jetzt da stand, vom warmen Licht der Kerzen eingerahmt, nicht abschreckend fand. Er hatte einen schönen, ebenmäßigen, trainierten Körper, er wirkte wie ein griechisches Bildnis des Adonis, und jenes Teil, das sie bei Männern schon immer gestört hatte, das weder schlaff noch erigiert schön war und auf Anou immer wie ein überflüssiges Anhängsel gewirkt hatte, fehlte bei ihm. Nein, es fehlte nicht, es war eben nicht da und verhalf diesem Bild zur Perfektion.
    Wenn sie Zeit gewinnen wollte, musste sie ihm die Wahrheit sagen.
    »Ja«, sagte sie, so deutlich es ihr möglich war.
    Ihre Stimme klang merkwürdig kratzig und tonlos.
    Mit den lässigen, geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze kam er auf sie zu und blieb einen Meter von dem Matratzenlager entfernt stehen. Seine Augen ruhten auf ihr. In ihrem Gesicht suchte er nach der Lüge, als er seine Frage wiederholte.
    »Findest du mich schön?«

    Anouschka überlegte diesmal nicht lange. Sie nickte und sagte leise:
    »Ja.«
    Daraufhin wurde sein Blick stechend. Kein Mensch auf der Welt hätte vor diesem Blick eine Lüge verstecken können. Anou spürte förmlich, wie er durch ihre Augen in ihren Kopf eindrang, sich dort auf die Suche nach Verstecken machte, in denen die Lüge lauerte.
    Schließlich wurde sein Gesicht weicher. Er schien zufrieden. »Das verstehe ich nicht«, sagte er sanft, »keine der Frauen vorher hat die Wahrheit gesagt, ich konnte es ihnen immer ansehen. Warum du?«
    Anouschkas Gedanken rasten.
    Durfte sie mit ihm über ihre sexuelle Ausrichtung sprechen? Würde es ihre Chancen erhöhen, wenn sie ihm erzählte, dass sie lesbisch war? Oder war das sogar gefährlich? Dieser Mann war eine seltene Mutation, er war mit diesem Makel zur Welt gekommen, und Anou konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft seine Kindheit gewesen sein musste. Gehänselt, wahrscheinlich verprügelt von den Jungen, ausgelacht oder nicht beachtet von den Mädchen und später den Frauen. War er seit jeher auf der Suche nach einer Frau, die ihn so respektierte wie er war? War er einfach nur auf der Suche nach Liebe? Und wenn sie ihm jetzt erzählte, dass sie im eigentlichen Sinne keine normale Frau war, was dann? Er könnte es falsch verstehen. Anou konnte seine Gedanken schon vorausahnen.
    Sie mag mich nur, weil sie eine Lesbe ist, weil sie auf Fotzen steht. Sie mag mich nicht in ihrer Eigenschaft als Frau, so wie Frauen männliche Körper mögen sollten.
    Nein! Sie würde es ihm nicht sagen.
    Aber was dann?

    Sag ihm, was du eben empfunden hast, als er vor dem warmen Schein der Kerzen stand.
    »Du bist schön. Du siehst aus wie ein Bild, wie ein antikes Bildnis des Adonis, nur perfekter.«
    Anou konnte selbst kaum glauben, was sie da tat. Das hier war an Perversion nicht zu überbieten. Sie befand sich in seiner Gewalt, war nackt und in Ketten irgendwo tief unter der Erde, musste um ihr Leben fürchten und sprach mit ihrem Entführer, als sei er ihr Geliebter.
    Die Situation erfordert es , sagte sie sich, und wenn es dein Leben rettet, dann ist es jedes einzelne Wort wert. Diese, und alle die noch kommen werden.
    Anou hatte unbewusst eine Grenze überschritten und spürte, dass es ab hier keine Tabus mehr geben würde. Da draußen wartete eine Welt mit einem Menschen darin, den sie liebte und mit dem sie zusammen sein wollte. Wenn es sich dafür nicht lohnte, Grenzen zu überwinden und Risiken einzugehen, wofür dann?
    Sie würde nicht hier unten sterben!
    Sie würde diesen Verrückten überwinden und das alles hinter sich lassen. Was nötig war, hatte sie dabei. Mut, Kraft und Cleverness.
    Während ihr das durch den Kopf schoss, schaffte Anou es sogar, ihm ein kleines warmes Lächeln zu schenken.
    Es wurde erwidert.
     
    Es hatte zu regnen begonnen.
    Zuerst nur leicht, doch bald steigerte es sich zu einem gleichmäßig starken Landregen, der stundenlang anhalten konnte. Der Himmel war ein einziges weites graues Meer, ohne Hoffnung auf Licht

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