Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Seele, alles fühlte sich wie rundum erneuert an. Dafür war allein Anou verantwortlich, die im Bett ein richtiges Energiebündel war. Nele spürte jetzt noch ihre Wangen erröten, wenn sie daran dachte, was sie miteinander getan hatten.
Auf dem Parkplatz trafen sie sich.
Anouschka lächelte. »Mariensee!«, sagte sie verschwörerisch.
Nele nickte. Sie brauchten sowieso jeden freien Ermittler da draußen. Nele konnte es sich nicht leisten, eine fähige Beamtin wie Anou zwischen den Akten zu lassen, solange sie noch keine Spur von dem Mädchen hatten. Dass sie heute in die Ermittlungen mit eingebunden werden sollte, hatte nichts mit einer Belohnung für die gestrige Nacht zu tun. Obwohl Anou es natürlich fälschlicherweise so auffassen könnte. Aber andererseits, wenn Nele sie hierließ, würde
Anou es genauso falsch verstehen und folgerichtig denken, es geschehe aus Vorsicht vor den Kollegen.
Und schon fangen die Probleme an , seufzte Nele innerlich, schob den Gedanken aber schnell beiseite.
Sie stiegen die Treppe zum Eingang hinauf, zückten ihre Codekarten und öffneten damit die Tür. Die Beamtin am Empfang grüßte sie freundlich.
Bevor sie sich auf den Weg nach Mariensee machten, wollte Nele im Büro die Post und Infos des gestrigen Tages sichten. Außerdem hatte sie mit Tim Siebert abgesprochen, um acht Uhr hier eine informelle Besprechung durchzuführen. Eckert Glanz würde daran nicht teilnehmen. Er war draußen geblieben, um in aller Frühe die Einweisung der Hundertschaft zu übernehmen.
Im Dezernat war es noch ruhig. Sie nahmen den Fahrstuhl in die zweite Etage, zogen sich im Gang einen Kaffee aus dem Automaten und nahmen ihn mit ins Büro. Als sie dort ankamen, duftete es im Teamraum der Abteilung Vermisste bereits nach frischem, echtem Bohnenkaffee. Tim Siebert saß hinter seinem Schreibtisch auf dem Drehstuhl und griente sie an. »Kostverächter, was?«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf die beiden Plastikbecher.
Obwohl der Kaffee je einen Euro gekostet hatte, gossen Nele und Anou ihn ins Waschbecken. Tim stand auf, ging zur Kaffeemaschine hinüber und füllte zwei große Tassen.
»Zwei Stück Zucker, richtig?«, fragte er in Anouschkas Richtung.
»Hey, ein aufmerksamer Mann!«
Nele beobachtete Tim. Waren seine Ohren gerade rot angelaufen?
Sie bekam ihren Kaffee schwarz, Anou mit Zucker, beide nippten daran.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte sie Tim und setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches. Ihr Kollege sah ausgeruht und frisch geduscht aus. Sein Kinnbart war penibel gestutzt, ein kleines Kunstwerk, dass ihn wahrscheinlich jeden Morgen mindestens eine Viertelstunde an den Spiegel fesselte. Bei vielen anderen Männern hätte so ein Ding einfach nur affig gewirkt, zu Tim passte er hervorragend.
»Seit einer Stunde. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mir geht ein Gedanke nicht aus dem Kopf.«
»Und der wäre?«
»Das es Zufälle dieser Art nicht gibt und der Unfall von vor einem Jahr doch etwas mit dem Verschwinden von Jasmin Dreyer zu tun hat.«
Nele nickte und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Sie hatte zwar nur kurz, aber sehr gut geschlafen und überhaupt nicht an den Fall gedacht.
Tim strich nachdenklich mit Zeigefinger und Daumen an seinem Bärtchen entlang. »So abwegig ist es eigentlich nicht. Wenn ich als Triebtäter auf der Suche nach einem Opfer bin, gibt es schlechtere Möglichkeiten, als nachts an einem einsamen beschrankten Bahnübergang zu lauern.«
Er hob die rechte Hand und zählte im Folgenden jeden Punkt an einem Finger ab.
»Die Fahrzeuge halten lange genug. Ich kann sehen, wer drinnen ist. Die Strecke ist schnurgerade. Ich kann sehen, ob noch ein Fahrzeug kommt. Und wenn das Fahrzeug nicht verriegelt ist …«
Am Ende schnippte er mit Daumen und Mittelfinger.
»… oder wenn ein minderjähriges Mädchen nachts allein mit dem Fahrrad unterwegs ist«, vollendete Anou seinen Satz.
»Ja!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.
»Ich könnte kotzen. Was glauben die Menschen eigentlich, in was für einer Welt wir leben? Lesen die da draußen auf dem Land keine Zeitung? Herrgottnochmal, es kann wirklich passieren, was will, der Leichtsinn der Menschen ist nicht totzukriegen.«
»Reg dich nicht auf, du kennst das doch. Was in der Zeitung steht, betrifft immer nur die anderen. Selbst passiert einem so etwas nicht.«
»Bis es dann eben doch passiert.«
»Du meinst also, wir könnten es mit einem Wiederholungstäter zu tun
Weitere Kostenlose Bücher