Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Gespräch nicht hier an der Schranke zu führen, wo sie dauernd von dem Zugverkehr gestört werden würden, sondern es in die Waldschänke in Mariensee zu verlegen, in der Eckert Glanz übernachtet hatte.
Nele unterhielt sich noch kurz mit dem Einsatzleiter der Hundertschaft und dem Hundestaffelführer. Sie wies die beiden an, den Aktionsradius zu erweitern, obwohl sie bezweifelte, dass es zu einem Erfolg führen würde. Bisher gab es nicht eine einzige verwertbare Spur. Das Mädchen konnte überall sein, möglicherweise Hunderte von Kilometern entfernt. Aber zumindest bis zum Einbruch der Dunkelheit würden sie die Suche fortsetzen. Schon allein um sich nicht den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, nicht alles versucht zu haben.
Eine halbe Stunde später saßen sie abermals in der Waldschänke, diesmal zu fünft, an einem runden Tisch in der hinteren Ecke. Alle hatten Kaffee bestellt, bis auf Eckert Glanz, der diesmal Tee trank. Heute wurden sie von dem Besitzer selbst bedient, der sich eifrig hinter dem Tresen zu schaffen machte. Sie waren die einzigen Gäste im Schankraum, er konnte sich also ganz darauf konzentrieren, sie zu belauschen. Sie sprachen so leise, dass sie sich selbst gerade noch verstehen konnten.
In wenigen Minuten hatte Kriminalrat Hendrik ihnen geschildert, was in der Nacht in dem nur wenige Kilometer entfernten Bordell an der stillgelegten Bahnstrecke geschehen war. Oder besser, was er vermutete, das geschehen war.
Nele war erleichtert. Auf der Fahrt nach Mariensee hatte
sie sich den Kopf zermartert, was sie zu Beginn dieser Ermittlung falsch gemacht haben könnte, dass Dag Hendrik sich so früh einschaltete. Sie hatte das Schlimmste befürchtet. Vielleicht hatte sich einer der Anwohner beschwert, oder der Vater des Freundes von Jasmin Dreyer, den sie in der Befragung etwas härter angepackt hatten. Tatsächlich aber lief es jetzt auf einen Zufall hinaus.
»Das hört sich für mich wie eine Abrechnung im Milieu an«, meinte Nele, nachdem Hendrik seine Ausführungen beendet hatte.
Der nickte. »Ich stimme Ihnen zu. Die Brutalität spricht tatsächlich für eine Abrechnung unter Geschäftspartnern. Allerdings erwarte ich einen Anruf, der klärt, ob noch ein weiteres Mädchen in dem Club gewesen ist.«
»Gibt es denn einen Grund für diese Annahme?«, fragte Tim.
Hendrik erzählte ihnen von der Damenhandtasche und mutmaßte, dass nur ein einziges Mädchen schon ungewöhnlich wäre. Er hatte kaum geendet, da läutete sein Handy. Er nahm das Gespräch entgegen und hörte konzentriert zu. Nachdem Hendrik ein paar Worte gesagt hatte, legte er auf. Langsam und bedächtig steckte er das Handy zurück in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke. Dann sah er Nele an.
»Das war eben mein Kollege Basler. Er hat den Kerl verhört, der an dem Bordell beteiligt ist. Und der hat ausgesagt, dass immer zwei Mädchen dort waren, auch letzte Nacht.«
Nele starrte Hendrik an und drückte den Rücken durch. »Das bedeutet …«
»… dass ein Mädchen vermisst wird … mit ihrem zwei«, beendete Hendrik ihren Satz.
»Scheiße!«, sagte Anou.
»So kann man es auch ausdrücken.«
»Das Mädchen kann auch von Tätern aus dem Milieu mitgenommen worden sein«, überlegte Nele laut.
»Sie kann auch geflüchtet sein, ist alles denkbar. Aber dieser Mirkovich sagt aus, es gebe keinen Streit mit irgendjemandem, und auf diese Art würden sie das auch nicht regeln.«
»Kann man das glauben?«
»Soweit man einem Dealer, Schläger, Mädchenhändler und wahrscheinlich auch Mörder eben glauben kann.«
»Wenn wir diesen Gedanken zu Ende bringen, hieße das, wir sind auf der Suche nach einem Wiederholungs-, wenn nicht sogar Serientäter.«
Daraufhin schwiegen alle.
Es war Anou, die sich als Erste wieder zu Wort meldete. »Das Verhalten entspricht aber keinem gängigen Schema. Sexuell motivierte Serientäter sind nach ihrer ersten Tat zunächst verwirrt und haben Angst, entdeckt zu werden. Sie ziehen sich zurück, warten ab, beobachten oft sogar die Ermittlungen sehr genau, beteiligen sich mitunter sogar daran. Es dauert eine ganze Weile, bis sie ihre nächste Tat begehen. Dieser Abstand zwischen den Entführungen ist einfach zu kurz.«
»Es sei denn, es ist nicht seine erste Tat«, gab Nele zu bedenken.
»Haben Sie Grund zu der Annahme?«, fragte Hendrik.
Nele berichtete ihm von dem Unfall vor einem Jahr. »Es könnte ja sein, dass er es damals schon versucht hat. Die Sache ging aber furchtbar schief, und er
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