Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Vaters verstoßen zu haben. Kurze Zeit später folgte Mutter ihm ins Zimmer. Sacht drückte sie die Tür ins Schloss und setzte sich im Dunkeln auf seine Bettkante.
»Du musst dir nichts daraus machen«, flüsterte sie und strich mit ihrer weichen Hand über seine Wangen. Ihre Hand roch nach dem Babyöl.
»Gott hat dich erschaffen, und er findet dich schön, so wie du bist. Ich finde dich auch schön … du bist mein hübscher kleiner Junge. Ich liebe dich.«
Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte einen zärtlichen Kuss auf seine Stirn. Er schlang die Arme um seine Mutter, drückte sie und fühlte doch irgendwie nichts. So als
sei ein ganz bestimmter Acker in seiner Seele nicht bestellt und werfe deshalb keine Früchte ab. Trotzdem genoss er ihre Zärtlichkeit, ihre Worte und ihren Geruch.
Diesen wunderbaren Geruch des Babyöls.
Betäubend, berauschend ….
Die Erinnerung verblasste, doch der Geruch nach Babyöl lag ihm in der Nase, obwohl er heute noch keines benutzt hatte. Allein den Brief in der Hand zu halten hatte gereicht, diese Bilder wachzurufen, so erstaunlich lebendig wie ein Film, eine Videoaufzeichnung, Kindheitserinnerungen, festgehalten für die Nachwelt. Nur dass in diesem Film auch Gefühle und Gerüche festgehalten waren, und das war mehr, als er ertragen konnte.
Dieser Brief … warum hatte er ihn gerade jetzt bekommen?
Jetzt, wo er angefangen hatte, mit der Vergangenheit abzurechnen?
Er spürte Wut aufsteigen, jene Wut, die damals, als sein Vater in die Wanne gepisst hatte, auch schon in ihm gewesen war, jedoch nicht herausgekonnt hatte. Heute jedoch konnte sie es, und er konnte tun und lassen, was er wollte.
Du Missgeburt! Du Schwuchtel!
Er sprang vom Stuhl auf. Mit geweiteten Augen starrte er in die ihn umgebende Dunkelheit.
»Was willst du hier? Hau ab, ich hasse dich!«, brüllte er. Speichel spritzte.
Du wirst immer eine Schwuchtel bleiben!
»Nein, nein!«
Er lief umher, seine Hände öffneten und schlossen sich wie im Krampf. Er musste etwas tun, durfte es nicht einfach so über sich ergehen lassen.
Die Frau!
Ja, er würde es ihm beweisen!
Gleich jetzt!
Er lief zu dem niedrigen, langen Tisch, auf dem im Licht der Kerzen sauber aufgereiht seine Werkzeuge auf ihre Benutzung warteten. Monate hatte es gedauert, sie zusammenzutragen. Jedes einzelne war in einem anderen Fachgeschäft gekauft, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Noch waren sie, bis auf das Messer, jungfräulich. Zielsicher griff er nach dem Schlachterbeil und fuhr herum.
Plötzlich erfüllte hässliches Hohngelächter das unterirdische Gewölbe, wurde von den Mauern hin und her geworfen, multiplizierte sich, füllte seine Ohren, seinen Kopf, brachte ihn um den Verstand. Er presste die Handflächen auf die Ohren. Er durfte nicht über ihn lachen. Nicht mehr, nicht hier unten. Doch es hörte nicht auf, verhöhnte ihn nur noch mehr, wurde zu infernalischem Gebrüll, das seinen Kopf zum Platzen brachte.
Mit einem gequälten Schrei stürzte er auf die immer noch schlaff in den Fesseln hängende Frau zu. Sie hatte das Chloroform tief eingeatmet und war deswegen länger ohne Bewusstsein, als er gewollt hatte. Aber das war jetzt egal. Sie musste nicht wach sein, um ihm zu helfen.
Ihr Blut würde das Lachen verstummen lassen.
Er ließ das Schlachterbeil niederfahren, wieder und wieder, badete, tauchte in ihrem warmen Blut, verwandelte ihren Körper mit jedem weiteren wuchtigen Schlag in ein Fleischbündel. Fetzen, Brocken, Blut, flog, spritzte durch den Raum, besudelte Wände und Boden, ließ Kerzen erlöschen und Hoffnung schwinden. Und mit jedem weiteren Hieb wurde das Lachen leiser. Er schlug und schlug und schlug, so lange, bis er den Arm vor Schmerzen nicht mehr
heben konnte. Dann entglitt ihm das Beil und fiel scheppernd zu Boden.
Er torkelte zurück, rutschte in dem Blutsee aus, fiel zu Boden, robbte auf dem nassen, glitschigen Boden rückwärts, bis er eine kalte Mauer in seinem Rücken spürte.
In den Fesseln hingen nur noch zerstörte Knochen und zerfetztes Fleisch.
Das Lachen aber war verstummt.
Vorerst.
Nele Karminter und Anouschka Rossberg fuhren in getrennten Wagen um halb acht auf den Parkplatz vorm Dienstgebäude in der Schillerstraße. Beide waren alles andere als ausgeschlafen. Trotzdem fühlte Nele sich gut, spürte eine ungewohnte Leichtigkeit und fragte sich, ob drei Orgasmen in einer Nacht tatsächlich die gleiche Wirkung wie Drogen haben konnten. Ihr Kopf, ihr Körper, ihre
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