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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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»Wie auch immer, ich will diesen Täter, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.«
    Hendrik nickte. Sein Gesicht war jetzt ernst. »Das kann ich verstehen, glauben Sie mir. Und um den Rest brauchen Sie sich auch nicht zu kümmern. Döpner hat es ja gesagt, wir halten Ihnen den Rücken und damit auch den Kopf frei. Machen Sie das Beste daraus.«
    Sie verabschiedeten sich voneinander.
    Als Nele vor dem Gebäude in ihren Wagen stieg, befand sie sich in einem merkwürdigen Zustand zwischen totaler Erschöpfung und mittels Koffein und Adrenalin herbeigeführter Wachsamkeit. Eine ungesunde Mischung, die zu Wut und Aggressivität führte und, wenn sie irgendwann zusammenbrach, dann doch hoffentlich in tiefen Schlaf münden würde. Vielleicht konnten ein paar Worte am Telefon mit Anou diesen Prozess beschleunigen. Sie würde von zu Hause aus anrufen, wenn sie im Bett lag und danach nur noch die Augen schließen musste. Nele startete den Wagen, lenkte ihn in Richtung Ausfahrt und fädelte sich zügig in den Verkehr ein.
    Zu Hause angekommen duschte Nele schnell, kochte
sich einen Pfefferminztee, schlüpfte nackt und mit noch leicht feuchtem Haar unter die Bettdecke und nahm das Telefon zur Hand. Ein leichtes Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus – die berühmten Schmetterlinge, es gab sie also doch noch. Sie wollte nur telefonieren, und doch war sie aufgeregt wie eine Schülerin.
    Es läutete. Sechs, sieben, acht Mal.
    War Anouschka noch unterwegs um diese Zeit?
    Als sie bereits auflegen wollte, wurde am anderen Ende abgenommen. Eine matte, schläfrige Stimme meldete sich.
    »Ja?«
    »Ich bin’s … tut mir leid, jetzt hab ich dich aus dem Schlaf gerissen.«
    »Nein, nein … schon gut, das macht nichts, warte …«
    Nele hörte leises Rascheln, dann den Schalter einer Nachttischlampe.
    »So, jetzt bin ich wach.«
    »Tut mir wirklich leid.«
    »Quatsch, lass das, du kannst mich zu jeder Zeit anrufen … ich freue mich, dass du dich überhaupt noch meldest.«
    Der leise Vorwurf darin entging Nele nicht. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs feuchte Haar, lockerte es auf, suchte nach den richtigen Worten.
    »Ja, ich weiß, entschuldige bitte, war ein stressiger Tag, und ich hatte bis neun noch eine Besprechung mit Döpner und Hendrik.«
    »Und wo bist du jetzt?«
    »Ich liege im Bett mit einer Tasse Pfefferminztee … statt mit dir.«
    »Kein guter Ersatz, oder?«
    »Überhaupt nicht. Aber ich bin so hundemüde, heute
Abend wäre ich keine gute Gesellschafterin mehr gewesen.«
    »Vielleicht hätte ich dich aufmuntern können.«
    Nele wartete einen Moment. »Morgen, okay?« Sie konnte beinahe sehen, wie Anou nickte.
    »Ich vermisse dich.«
    »Ja, ich dich auch. Schlaf gut.«
    »Du auch.«
    Damit beendeten sie das Gespräch.
    Nele behielt das Telefon in der Hand und starrte es an. Das war ein merkwürdiges Gefühl, diese Worte zu hören und sie auch selbst auszusprechen. Es war lange, viel zu lange her, mit der Gewissheit leben zu dürfen, dass es einen Menschen gab, der auf sie wartete, der sie brauchte, der sie vermisste. Gegenüber ihren Eltern war dieses Gefühl, gebraucht und vermisst zu werden, verloren gegangen, nachdem sie den beiden unmissverständlich klargemacht hatte, dass es niemals eine Hochzeit wie aus dem Märchen geben würde. Nele konnte nicht einmal sagen, wer von den beiden schockierter gewesen war, denn der Ausdruck im Blick beider war nahezu gleich gewesen. Entsetzen, gefolgt von Unverständnis, und schließlich, was am schlimmsten war, abgelöst durch Vorwürfe, die ein Leben lang anhalten würden. Wie kannst du uns das antun? Wie kannst du so egoistisch sein? Was haben wir nur falsch gemacht? Wir, wir, wir! Nicht für eine Sekunde hatten sie sich dabei für ihre Tochter interessiert, für deren Wünsche, Gefühle, Träume. Seitdem beschränkte sich ihre Beziehung auf den Austausch von Höflichkeiten zu Geburtstagen und zu Weihnachten.
    Und ihre letzte feste Beziehung, die zu Mara, die immerhin ein halbes Jahr Bestand gehabt hatte, war völlig
anderer Natur gewesen. Es war nett gewesen, schön, auch leidenschaftlich, aber das Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden, hatte Mara ihr nie gegeben.
    Nele trank einen letzten Schluck von dem Tee, dann kuschelte sie sich in die Bettdecke ein. Als gäbe es keinen aktuellen, mysteriösen, grausamen Fall, schlief sie mit schönen Gedanken und einer wohligen Wärme im Körper ein.

5.
    Tag, morgens
    Eingeschlafen, o Gott, sie war eingeschlafen. Wie lange? Es

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