Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
hatte, war das Überraschungsmoment. Keine Sekunde durfte sie vergeuden, waren die
Fesseln erst einmal gelöst. Nicht im Traum hatte sie daran gedacht, diesen Perversen mit seinem Öl einzureiben. Niemals! Sie würde fliehen und irgendwie aus diesem Verlies entkommen. Sollte das nicht klappen … nein, daran wollte sie nicht denken.
Denk an Mandy, nur an Mandy, sie braucht dich noch …
Dann fiel auch der linke Arm herunter.
Er trat einen Schritt zurück.
Frauke hatte einen älteren Bruder, Jan, der damals, als sie sich noch regelmäßig gesehen hatten, Kampfsport betrieben hatte. Ob er es heute noch tat, wusste sie nicht, aber damals war er recht gut gewesen und hatte ihr, mehr aus Spaß und Angeberei, im Wohnzimmer ein paar Tricks gezeigt. Unter anderem auch den Handkantenschlag auf den Kehlkopf eines Angreifers. Das sollte angeblich jeden stoppen und konnte schnell zum Tod führen.
Ihr rechter Arm war wieder halbwegs fit.
Frauke holte aus und schlug zu.
Er sah den Schlag nicht mal kommen. Ihre Handkante erreichte ihr Ziel, traf halb von vorn gegen seinen Hals. Nicht wirklich stark, dafür war ihr Arm noch zu taub, aber offensichtlich doch wirkungsvoll.
Er packte sich mit beiden Händen an den Hals, seine Augen quollen hervor, dann fiel er auf die Knie, röchelte hässlich und kippte schließlich vornüber.
Frauke kümmerte sich nicht weiter um ihn. Sie verschwendete nicht mal Zeit damit, nach ihrer Kleidung zu suchen. Nackt wie sie war lief sie durch den Raum, schnappte sich vom Tisch die Taschenlampe, schaltete sie ein und lief dorthin, von wo er vorhin gekommen war. Das Licht der Lampe verlor sich in einem langen, schmalen Tunnel. Ohne zu stoppen lief Frauke hinein.
Nur nicht stehen bleiben, nicht zurücksehen, irgendwo musste es einen Ausgang geben!
Wegen der niedrigen Decke lief sie leicht gebückt, ihre nackten Schultern schabten an dem harten, scharfen Beton, sie taumelte, stieß sich ab, lief immer weiter, leuchtete in den Gang hinein und wurde trotzdem überrascht von einer rechtwinkligen Kehre. Frauke konnte nicht mehr stoppen, prallte gegen die Wand und stürzte nach hinten.
Sie schrie auf.
Überall Schmerzen!
Reiß dich zusammen! Steh auf! Renn um dein Leben!
Das tat sie. So lange, bis der Gang in zwei Richtungen weiterführte. Wohin jetzt? Rechts oder links? Frauke schaltete die Taschenlampe aus. Sofort wurde es finster, absolut finster. Sie hatte gehofft, den Schimmer von Tageslicht in der einen oder anderen Richtung erkennen zu können, doch da war nichts als Schwärze. Schnell schaltete sie die Lampe wieder ein.
Rechts, sie lief rechts.
Kaum ein paar Meter weit gekommen, tauchte linker Hand ein Durchbruch in der Wand auf, an dem sie fast vorbeigerannt wäre. Frauke, schon außer Atem, blieb stehen und leuchtete hinein.
Ein kleiner quadratischer Raum ohne Ausgang, in dem …
Sie schrie gellend, taumelte zurück in den Gang und wäre gestürzt, hätte die Wand sie nicht aufgehalten. Heiß schoss es in ihrem Hals empor. Sie übergab sich vor dem Mauerdurchbruch. Kaum verdautes Brot platschte mit Wasser vermischt auf den staubigen Boden, besudelte ihre nackten Füße.
Das war ein Alptraum, ein furchtbarer Alptraum!
Mehr taumelnd als laufend, sich mit den Händen an den
rauen Wänden abstützend, überwand Frauke ein paar Meter, bevor der nächste Durchbruch auftauchte. Nein, in diesen würde sie nicht hineinleuchten! Noch einmal konnte sie einen solchen Anblick nicht ertragen. Sie taumelte weiter, spürte ihre Kraft nachlassen. Erneut erreichte sie eine Abzweigung, schaltete die Lampe aus und ließ ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnen. Immer noch kein Tageslicht, keine Treppe, kein Aufgang, nichts. Was war das hier? Es war keine Höhle, sondern von Menschenhand geschaffen. Deutlich war die Verschalung im Beton zu erkennen. Aber wenn Menschen diese Anlage gebaut hatten, musste es doch auch Ausgänge geben, und irgendwie waren sie und er ja auch hereingekommen.
Weiter, sie musste weiter! Sie konnte nicht sicher sein, dass ihr Schlag tödlich gewesen war, und wenn sie Zeit verlor und er sie fand …
Nein, daran wollte Frauke nicht denken. Seine Drohung, was er mit seinem Messer bei ihr anstellen würde, geisterte noch allzu deutlich durch ihren Kopf.
Also schaltete sie die Lampe wieder ein und lief weiter. Diesmal nach links, einfach so, ohne einen besonderen Grund. In diesem Gang, so schien es Frauke bald, wurde die Dunkelheit immer intensiver, die Luft schlechter,
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