Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
muffiger, so als führe er tiefer unter die Erde. Frauke ahnte, dass sie eine falsche Abzweigung genommen hatte und sich immer weiter verlor in diesem Labyrinth aus Gängen und Räumen.
Hatte sie damit ihre Chance vertan? Panik stieg in ihr auf. Gleichzeitig spürte sie, dass ihre Kraft sie verließ. Die Beine zitterten, so wie auch der Rest ihres Körpers, ihr war schlecht, und sie konnte den Anblick in diesem kleinen Raum nicht vergessen. Obwohl er Antrieb sein sollte, lähmte er sie zusätzlich.
Würde sie jemals hier rausfinden?
Vielleicht war es besser, sich zu verstecken? Irgendwo hinhocken, Kraft tanken und warten, statt sinnlos herumzulaufen? Wenn sie einige Zeit verstreichen ließ, und er sich nicht bemerkbar machte, konnte sie sicher sein, dass er tot war. Dann brauchte sie nicht mehr zu hetzen und konnte systematisch nach einem Ausgang suchen. Aber wo sollte sie sich verstecken? Wo würde er nicht nach ihr suchen? Dies hier war sein Territorium, hier kannte er sich aus.
Frauke lief zurück.
In der Hoffnung, in einem der anderen kleinen quadratischen Räume, an denen sie eben vorbeigelaufen war, ein Versteck zu finden, leuchtete sie nun hinein. Der erste war absolut leer, keine Chance, sich darin zu verbergen. Der zweite lehrte sie erneut das Grauen, zeigte ihr, dass es weitaus Schlimmeres gab als tote Augen. Voller Entsetzen prallte sie zurück.
War das einmal ein Mensch gewesen? Sie wusste, dass es so war, hatte in diesem kurzen Moment schließlich deutlich den schmalen Fuß im Licht der Taschenlampe daliegen sehen. Ein Fuß ohne Bein, fransig und blutig der Stumpf. Trotzdem wollte sich ihr Verstand diese eine Hintertür offen halten, dass es sich eventuell auch um Wild handeln könnte.
Aber der Fuß! Der Fuß!
Wäre ihr Magen nicht schon leer gewesen, sie hätte sich ein zweites Mal übergeben.
Schnell fand sie den anderen Raum wieder, vor dem sie sich vorhin erbrochen hatte, betrat ihn zögernd und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Sie war noch dort! Das Mädchen. Jasmin Dreyer. Nackt lag sie in der Ecke, der Oberkörper an die Wand gelehnt, die weit geöffneten Augen schienen sie anzustarren. Unterhalb der linken Brust
befand sich ein Wunde, der Körper darunter war mit getrocknetem Blut besudelt.
Frauke brach in Tränen aus. Leise wimmernd ging sie auf den Leichnam des jungen Mädchens zu. Welches Grauen hatte sie hier unten in ihren letzten Stunden erleben müssen? Von der Welt getrennt, ohne Hoffnung, ohne Mutter und Vater. Niemand sollte so sterben müssen.
Vor dem geschundenen Körper ging Frauke in die Knie. Alles in ihr sträubte sich dagegen, das kalte Fleisch zu berühren. Aber sie hatte nur diese Chance, ein anderes Versteck gab es nicht. Wenn er nicht tot war, wenn er sich von dem Schlag erholte, würde er sie suchen. Und ihre Chance lag darin, dass er in diesen Raum nur flüchtig hineinsehen würde, dass er es vielleicht sogar vermied, mit den toten Augen seines Opfers konfrontiert zu werden.
Frauke heulte und schluchzte leise, während sie den schlaffen Arm der Toten am Handgelenk packte. Sie zog den Körper aus der Ecke heraus. Er war erstaunlich schwer, wollte sich zunächst nicht bewegen lassen. Schließlich schaffte sie es aber doch und kroch selbst in die Ecke. Ganz dicht presste Frauke sich gegen die Wände, spürte deren Kälte und schürfte sich die Haut an dem rauen Beton auf.
Dann packte sie die Leiche erneut und zog sie zu sich heran. Lehnte den schlaffen Oberkörper gegen sich selbst. Er war genauso kalt wie die Wand. Dies war kein Mensch mehr, es war wie ein Stück Fleisch aus der Kühltruhe im Supermarkt. Leise wimmernd bat Frauke immer wieder um Verzeihung, während sie mühsam den Körper so platzierte, dass er sie so gut wie nur möglich verdeckte. Es gab kein Licht in dem Raum, und wenn er nur kurz mit der Taschenlampe hineinleuchtete, würde er sie hinter der Leiche übersehen.
Hoffentlich!
Nele Karminter, Anouschka Rossberg, Tim Siebert und Eckert Glanz standen an der Bahnschranke, an der das erste Opfer, Jasmin Dreyer, entführt worden war. Ein böig kühler Wind wehte, trieb leichte graue Wolken unter einem bleiernen Himmel her, die Straße war vom letzten Schauer noch nass. Es roch modrig und vom Gleiskörper her irgendwie nach Urin; eine Mischung, die Nele gehörig auf den Magen schlug.
Sie alle waren gleichermaßen froh, dass die Nacht ruhig verlaufen war, ohne eine weitere Entführung. Somit hatten alle ausreichend Schlaf bekommen – und
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