Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
das war im Nachhinein ein großes Glück. Denn in der Kommandozentrale der Soko Schranke in Friedburg glühten an diesem ersten Tag nach der Pressekonferenz die Telefondrähte. Plötzlich hatte jeder irgendwas gesehen. Die ersten zwei Stunden des Vormittags hatten die vier noch dabei geholfen, die Flut an Anrufen entgegenzunehmen, doch Nele hatte erkannt, dass sie ihre besten Ermittler anders einsetzen musste. Effizienter. Vor allem aber plagte sie noch immer ihr Verdacht von gestern Nacht, der ein wenig untergegangen war in dem Ärger über die Bürgerwehr und dem Gespräch bei ihren Vorgesetzten. Also waren sie hier rausgefahren, sobald es zu schauern aufgehört hatte, denn Nele wollten ihnen sozusagen live zeigen, was sie meinte.
Ein Blick auf die Uhr. Der Nahverkehrszug, der den Bahnhof in Friedburg um acht nach zehn verließ, würde gleich durchfahren.
»Passt auf, jetzt ist es gleich so weit«, sagte Nele.
Sie standen an der Halbschranke aufgereiht, blickten alle nach links, erwarteten den Zug. So langsam, wie Nele es in der Nacht erlebt hatte, kam er auch diesmal wieder heran. Der Effekt verpuffte allerdings ein wenig, da es taghell
und die Abteile nicht beleuchtet waren. Nachdem der Zug durch war, traten sie von der Schranke zurück.
»Habt ihr gesehen, was ich meine? Und jetzt stellt euch vor, ihr befindet euch in einem der Waggons, beispielsweise als Fahrkartenkontrolleur. Seht vielleicht jeden Tag Menschen an Bahnschranken stehen und warten. Seht sie tags genauso wie nachts. Gelangweilte, arglose, einsame Menschen. Versteht ihr?«
Sie nickten alle. Hinter ihnen rumpelte ein langer Güterzug durch, so dass niemand sprechen konnte, bis er verschwunden war und die Schranken sich öffneten.
»Möglich wäre es«, sagte Tim Siebert schließlich. »Aber wie soll uns das helfen?«
»Erstmal nur als Idee, als Ansatzpunkt. Wir haben nichts, wir müssen irgendwo anfangen zu ermitteln. Also geht ein Team zur Bahn nach Lüneburg und fragt sich zur Personalabteilung durch. Keine Ahnung, wie die da strukturiert sind, aber das lässt sich ja herausfinden. Und dann sehen wir weiter.«
»Das wird Zeit kosten und -«
»Hör auf!«, unterbrach Nele Tim. »Ist mir alles klar, auch dass wir keine Zeit haben, aber solange du nicht mit einer besseren Idee kommst, wird es so gemacht. Döpner und Hendrik haben mir gestern Abend durch die Blume ein Ultimatum gestellt. Wir haben drei Tage. In drei Tagen brauchen wir irgendwas. Sonst übernimmt Hendrik und setzt einen Köder ein.«
»Uff«, machte Eckert, »das ging ja schnell.«
»Einen Köder …«, Anou legte die Stirn in Falten. »Das klingt nicht verkehrt.«
»Es wäre das letzte Mittel, und vor Ablauf der drei Tage denke ich überhaupt nicht darüber nach. Wir sollten jetzt -«
Neles Handy läutete. Sie wandte sich ab und nahm das Gespräch entgegen. Ein paar Worte nur, Worte wie kleine Elektroschocks, vielleicht genau das, worauf sie gewartet hatten, vielleicht aber auch nichts.
Sie drehte sich zu ihren Leuten um. Binnen Sekunden hatte sie eine Entscheidung getroffen. »Auf der Wache in Friedburg ist ein Paketfahrer aufgetaucht, dem was aufgefallen ist. Anouschka und ich reden mit ihm. Ihr beiden erledigt das mit der Bahn. Ruft mich an, wenn ihr was habt.«
Sie ließ die beiden Männer stehen, wohl wissend, dass zumindest Tim Siebert kein Interesse an dem Job hatte. Gerade deshalb hatte sie ihn damit beauftragt. Allzu selbstständige Mitarbeiter brauchten hin und wieder eine Erinnerung daran, wie wichtig Teamwork in diesem Beruf war.
»Was ist dem Mann denn aufgefallen?«, fragte Anou, nachdem sie losgefahren waren.
»Ein PKW, mehr weiß ich auch noch nicht. Aber wir werden es ja gleich erfahren.« Nele hörte, wie zickig und angespannt sie klang, konnte es aber nicht verhindern. Sie war zickig und angespannt an diesem Morgen, und Kopfschmerzen hatte sie auch. Fiese kleine Stiche irgendwo hinter dem rechten Auge. Zu wenig Schlaf, zu viel Koffein. Sie würde zwei Aspirin nehmen müssen, wenn sie den Tag überstehen wollte.
»Stimmt was nicht?«, fragte Anou vorsichtig.
Nele vermied es, sie anzusehen. »Ja und nein. Ist einfach nicht mein Tag heute. Ich hab beschissen geschlafen, die beiden Chefs sitzen mir im Nacken, und die Ermittlungen stecken fest, bevor sie überhaupt angefangen haben. Ich sehe nicht mal eine klare Linie vor mir. Da ist eine Wand aus Nebel, mehr nicht. Ich verstehe diesen Täter einfach nicht. Im Moment verstehe ich eigentlich gar
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