Tief
Position im Kabinett war paradoxerweise ungefährdet. Der Premierminister konnte es sich nicht leisten, sie zu entlassen, ohne dass es peinliche Fragen gäbe. Aber das tröstete sie wenig.
* * *
Dünne Sonnenstrahlen drangen durch die schweren Vorhänge und beleuchteten einzelne Dinge: den Türgriff, Kates Fuß, der unter der Decke hervorragte, die blau lackierten Fußnägel. An einer Seite des Betts war ein kleines Fernsehgerät eingeschaltet. Der Ton war so leise gedreht, dass Roddy, der vom Bett aus zuschaute, gerade noch etwas verstehen konnte. Einen Moment lang drehte er sich um und betrachtete Kates Rücken. Sie schlief noch und atmete ruhig und gleichmäßig. Roddy rieb sich die Augen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem alten Schwarz-Weiß-Western zu, der über den Bildschirm flimmerte.
»Der weiße Mann tötet alles, was er sieht«, sagte ein unglaublich edler Indianer gerade.
Roddy fand es angenehm, im Bett zu liegen, während neben ihm eine schöne junge Frau schlief. Das Gefühl wärmte ihn so wie die Steppdecke, mit der er zugedeckt war. Ihm war klar, dass er jetzt eigentlich aufstehen und sich all den Fragen und Problemen stellen sollte, aber … Nur noch ein bisschen, gelobte er sich. Außerdem erregte das klagende Heulen aus dem Fernseher erneut seine Aufmerksamkeit; der alte Apachen-Häuptling lag im Sterben.
In den Jahren, in denen er allein gelebt hatte, hatte er Hunderte von schlechten Filmen gesehen. Bei Western empfand er natürliche Empathie mit den Indianern in ihrem vergeblichen Versuch, ihre Welt zu retten. Und gerade diesen Film hatte er bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gesehen. Lippensynchron mit dem Schauspieler formte er den letzten Satz des Sterbenden mit dem Mund:
»In einem toten Land leben nur tote Menschen.«
Kate stöhnte.
»Hä?«
Sie öffnete die Augen und richtete sich halb auf.
»Ach du liebe Güte«, sagte sie.
»Was?«
»Ich habe noch nie mit einem Mann im Bett gelegen, der sich früh am Morgen Western anschaut.«
Der Sohn des nun toten Apachen-Häuptlings beriet sich mit den Stammesältesten über die Bedrohungen für ihre Lebensweise. Er nickte düster, während ein Medizinmann ihm riet: »Das Stahlross, es isst nie, es schläft nie, es galoppiert immer geradeaus.«
Kate drehte sich gähnend um. »Stahlross?«
»Ein Zug.«
Sie nickte, immer noch gähnend.
»Danke«, sagte Roddy und warf ihr einen Blick zu.
»Wofür?«
»Dafür«, antwortete er und zeigte auf das Bett und auf sich. »Es war genau, was ich brauchte.«
»Kein Problem. Außerdem warst du viel zu kaputt, um auf dumme Gedanken zu kommen.«
»Ich weiß kaum noch, was ein dummer Gedanke ist.«
»Ich wette, deine Erinnerungen daran sind jünger als meine.«
»Was? Bestimmt nicht.«
»Neun Monate, nein, Scheiße, zehn Monate.«
»Hmm.«
»Und du?«
»Etwa vier Jahre«, erwiderte Roddy.
»Oh …«
»Du hast doch bestimmt keinen Mangel an Angeboten.«
»Ich habe diese blöde Angewohnheit, auf völlig unpassende Männer zu stehen – aber zumindest hat bisher noch keiner im Morgengrauen Western geguckt.«
»So früh ist es auch nicht mehr«, sagte Roddy.
»Wie spät haben wir denn?«
»Ich weiß nicht, neun, halb zehn.«
»Oh, verdammt!«
Kate stand auf.
»Was ist denn?«
»Wieso hast du mich nicht geweckt? Ich dachte, es wäre erst sechs. Wir können doch nicht den ganzen Morgen im Bett verbringen«, erklärte sie. Es hörte sich an, als seien sie ein Paar, das so etwas schon öfter gemacht hatte. Roddy zuckte mit den Schultern. Kate stürmte ins Badezimmer. Als die Tür hinter ihr zuschlug, kam Roddy auf einmal wieder das Mantra der Wale in den Sinn. Mann-holen-Mann-Fisch-Mann-holen … Was bedeutete es bloß?
Er war sich sicher, dass das der Schlüssel zu allem war. Er stand auf. Auf dem Fernsehbildschirm erschien ein Stahlross, das unermüdlich Dampfwolken ausstoßend durch die amerikanischen Ebenen ratterte. Das Geräusch der Räder auf den Schienen war rhythmisch und regelmäßig und mischte sich mit Roddys Gedanken, bis es sich anhörte wie Mann-holen- Mann -Fisch-Mann-holen- Mann -Fisch-Mann-holen- Mann -Fisch …
* * *
Der Küstenort Blackpool in Lancashire rüstete sich für den zweiten Samstag im August, den belebtesten Tag des Jahres. Bleiche Mädchen in Fish ’n’ Chips-Buden ließen säckeweise Kartoffeln durch die Schneidemaschine laufen; erschöpfte Angestellte in Spielhallen ließen mürrische Jugendliche und Frauen mit harten Augen, die
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