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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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an Bord der Blenda war.
    Zum zweiten Mal hatte er von Leutnant Jakobsson den Eindruck einer lächerlichen Figur in einer kinematographischen Farce.
    Leutnant Jakobsson ging die Papiere des toten Matrosen durch. Vorsichtig trennte er die zusammengeklebten Seiten eines Soldbuchs auf.
    »Karl-Heinz Richter, geboren 1895 in Kiel«, las er. »Ein sehr junger Mann, noch keine Zwanzig. Ein kurzes Leben, ein gewaltsamer Tod.«
    Er bemühte sich, die verwischte Schrift zu entziffern.
    »Er war Matrose auf dem Schlachtschiff Niederburg. Daß dieses Schiff in der Ostsee operiert, kommt, glaube ich, als Überraschung für den Marinestab in Stockholm.«
    Lars Tobiasson-Svartman dachte bei sich: Eins der kleineren Schlachtschiffe der deutschen Flotte, aber immerhin mit einer Besatzung von über 800 Mann. Eins der schweren deutschen Kriegsschiffe, die wirklich hohe Geschwindigkeiten erreichen können.
    Leutnant Jakobsson beugte sich über die Photographien. Darunter eine Miniatur in Glas und Rahmen.
    »Vermutlich Frau Richter«, sagte er. »Eine freundlich lächelnde Frau, die in einem Photoatelier sitzt und nicht ahnt, daß ihr Sohn das Bild bei sich haben wird, wenn er ertrinkt. Ein schönes Gesicht, wenn auch ein wenig feist.«
    Gründlich musterte er die Miniatur.
    »Da liegt ein kleiner blauer Schmetterling unter dem Glas«, sagte er. »Warum, werden wir nie erfahren.«
    Er überreichte ihm die Photographie und die Dokumente. Lars Tobiasson-Svartman meinte auch, einen Hund zu erkennen. Doch er war sich der Rasse nicht sicher. Die Frau, mit großer Wahrscheinlichkeit Karl-Heinz Richters Mutter, sah zusammengesunken und ängstlich aus. Sie schien sich vor dem Photographen zu ducken. Und sie war wirklich fett.
    »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Leutnant Jakobsson. »Entweder ist es ein banales Unglück. In der Dunkelheit taumelt ein Matrose über Bord. Niemand merkt etwas. Es muß nicht einmal dunkel sein, damit so ein Unglück geschieht. Es kann tagsüber passiert sein. Von einem Schiffsdeck bis zur Meeresoberfläche hinunterzustürzen dauert zwei oder drei Sekunden. Keiner sieht dich, keiner hört dich, wenn du zappelst und mit dem Meer kämpfst, das unerbittlich alle Wärme aus dir heraussaugt und dich dann in die Tiefe zieht. Du stirbst an Unterkühlung und in grenzenlosem Entsetzen. Diejenigen, die dem Ertrinken nahe waren, sprechen von einem ganz speziellen Schrecken, der mit nichts zu vergleichen ist, nicht einmal mit der Angst, die man bei einem Bajonettangriff auf einen wild schießenden Feind empfindet.«
    Er unterbrach sich rasch, als hätte er den Faden verloren. Lars Tobiasson-Svartman fühlte, wie die Übelkeit ihn überfiel.
    »Es kann aber auch eine andere Erklärung geben«, fuhr Leutnant Jakobsson fort. »Er kann sich das Leben genommen haben. Die Angst ist zu groß geworden. Vor allem junge Menschen können sich aus den absonderlichsten Gründen das Leben nehmen. Aus unglücklicher Liebe zum Beispiel. Oder aus dem unklaren Phänomen, das auf deutsch >Weltschmerz< genannt wird. Aber auch Heimweh ist kein unbekanntes Phänomen als Erklärung dafür, warum Soldaten sich umbringen. Mamas Schürzenzipfel ist schließen, daß diese Frau ihren Sohn überbeschützt hat und sein Leben damit ohne sie unmöglich wurde.«
    Lange betrachtete er das Bild, ehe er es wieder weglegte. »Man kann natürlich über andere Gründe spekulieren. Er kann von seinen Vorgesetzten oder Kameraden schlecht behandelt worden sein. Ich finde, daß der Junge klein und angstvoll wirkt, auch im Tod. Tatsächlich gleicht er einem Mädchen. Fehlt nur noch der Zopf. Vielleicht ertrug er es nicht mehr, daß die anderen auf ihm herumhackten. Dennoch gehört eine Art von Mut dazu, sich ins Meer zu stürzen. Mut oder Dummheit. Oft genug kann das die gleiche Sache sein. Besonders bei Soldaten.«
    Leutnant Jakobsson stand auf. »Ich will den Mann nicht unnötig lange an Bord haben. Tote belasten ein Schiff. Die Besatzung wird unruhig. Er muß so schnell wie möglich bestattet werden.«
    »Muß der Körper nicht obduziert werden?«
    Leutnant Jakobsson dachte nach, bevor er antwortete. »Als Kapitän treffe ich selbst die Entscheidung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Mann krank war. Auch ein Toter vermag eine ansteckende Krankheit zu übertragen. Ich werde ihn so schnell wie möglich bestatten.«
    An der Tür der Messe blieb er stehen: »Ich muß Sie um einen Gefallen bitten. Sie sind vermutlich der einzige in der gesamten schwedischen

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