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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Menschen durch einen Feldstecher zu beobachten gab ihm immer ein Gefühl von Macht.
    Leutnant Jakobsson stand an der Reling und pinkelte ins Wasser. Er hielt sein Glied mit der verkrüppelten Hand.
    Lars Tobiasson-Svartman setzte den Feldstecher ab. Das Bild ekelte ihn. Er holte tief Luft.
    Von nun an würde er Widerwillen gegenüber Leutnant Jakobsson empfinden. Wenn sie sich zum Essen hinsetzten, würde er gegen das Bild des pinkelnden Mannes mit der verkrüppelten Hand ankämpfen müssen.
    Er überlegte, was geschehen würde, wenn er in einem Brief an seine Frau schriebe: »Heute morgen überraschte ich den Kommandanten des Schiffs mit heruntergelassenen Hosen.«
    Er setzte sich in eine Felsspalte, wo der Boden trocken war, und schloß die Augen. Nach einem Moment hatte er den Duft seiner Frau heraufbeschworen. Er war so stark, daß er die Augen aufschlug und beinahe glaubte, sie müsse da auf der Klippe anwesend sein, dicht bei ihm.
    Nach einer Weile kletterte er wieder hinunter zur Jolle und ruderte zurück.
    Es bedurfte einer Woche harter und beharrlicher Arbeit, um festzustellen, daß es möglich war, das Fahrwasser westlich von Halsskär zu nutzen. Sämtliche Schiffe der Marine, ausgenommen die größten Panzerkreuzer, würden hier mit sicherem Spielraum passieren können.
    Beim Abendessen - gedünsteter Dorsch mit Kartoffeln und Eiersoße - informierte er Leutnant Jakobsson über die Entdeckung. Er war nicht ganz sicher, welches Recht er formell hatte, von seinem Auftrag zu berichten. Zugleich war es ein merkwürdiges Gefühl, mit einem Mann, der mit eigenen Augen sehen konnte, worauf die Arbeit hinauslief, nicht offen zu sprechen.
    »Das imponiert mir«, sagte Leutnant Jakobsson. »Aber ich habe eine Frage. Wußten Sie das von vornherein?«
    »Was?«
    »Daß es dort diese Tiefe gibt? Daß sie für die großen Kriegsschiffe ausreichend ist?«
    »Seevermesser, die aufs Geratewohl suchen, haben selten Glück. Mit Sicherheit weiß ich nur, daß das, was sich unter der Meeresoberfläche verbirgt, unberechenbar ist. Wir können Schlamm und Fische und verfaulten Tang aus dem Meer ziehen. Aber es können auch bedeutende Überraschungen aus der Tiefe heraufkommen.«
    »Es muß ein merkwürdiges Gefühl sein, eine Seekarte zu betrachten und zu wissen, daß man an dem korrekten Ergebnis beteiligt war.«
    Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß Leutnant Jakobssons erster Offizier, Freden, hereinkam und meldete, die Svea sei auf nördlichem Kurs gesichtet worden.
    Lars Tobiasson-Svartman aß rasch zu Ende und beeilte sich, die jüngsten Meßergebnisse einzutragen. Er überflog die Notizen und signierte sie dann im Logbuch.
    Bevor er die Kajüte verließ, schrieb er einen weiteren kurzen Brief an seine Frau.
    Das Panzerschiff türmte sich neben der Blenda auf. Da fast Windstille herrschte, legten sie einen Landungssteg als Brücke zwischen den Schiffen aus.
    Fregattenkapitän Rake war schwer erkältet. Er stellte keine Fragen, nahm nur das Logbuch entgegen und reichte es einem der Verschlüsselungstechniker. Dann bot er Kognak an.
    »Bootsmann Rudin?« fragte Lars Tobiasson-Svartman. »Wie ist es ihm ergangen?«
    »Er ist leider während der Operation gestorben«, erwiderte Rake. »Das ist wirklich bedauerlich. Er war ein guter Bootsmann. Außerdem hat sein Tod meine persönliche Statistik verschlechtert.«
    Lars Tobiasson-Svartman wurde plötzlich von Übelkeit erfaßt. Daß Rudin sterben würde, hatte er nicht erwartet, und für einen Augenblick verlor er die Kontrolle über sich selbst.
    Rake betrachtete ihn aufmerksam. Er hatte die Reaktion bemerkt. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Mir geht es ausgezeichnet. Es ist nur mein Magen, der in den letzten Tagen nicht in Ordnung war.«
    Der Schatten des Bootsmann Rudin glitt durch die Kajüte.
    Sie tranken noch ein Glas Kognak, ehe sie sich trennten.
    Am 31. Oktober, am frühen Nachmittag, wurde die mittlere Ostküste von einem starken südöstlichen Sturm heimgesucht, der die Seeleute zwang, ihre gen, als er abschätzte, wie das Wetter werden würde, hatten alle Anzeichen auf einen Sturm hingedeutet. Beim Frühstück hatte er den Kommandanten nach seiner Meinung über die Wetteraussichten befragt.
    »Das Barometer fällt«, antwortete Leutnant Jakobsson. »Möglicherweise kann es einen südlichen Wind bis zu einer steifen Brise geben. Aber nicht vor Anbruch der Nacht.«
    Schon am Nachmittag, dachte Lars Tobiasson-Svartman. Außerdem wird der Wind nach Osten drehen.

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