Tiefe
Und er wird Sturmstärke erreichen. Aber er sagte nichts. Weder beim Frühstück, noch als der Sturm ausbrach.
Die Blenda krängte und stampfte in der rauhen See. Die Maschinen arbeiteten mit voller Kraft, um das Schiff im Wind zu halten. Zwei Tage lang war er bei den Mahlzeiten allein. Leutnant Jakobsson litt an schwerer Seekrankheit und ließ sich nicht blicken. Er selbst hatte nie mit der Übelkeit zu kämpfen gehabt, nicht einmal in seinen ersten tastenden Jahren als Seekadett.
Aus irgendeinem Grund bereitete ihm das ein schlechtes Gewissen.
In der Nacht zum 3. November legte sich der Sturm. Als Lars Tobiasson-Svartman in der Morgendämmerung an Deck trat, trieben Wolkenfetzen über den Himmel. Die Temperatur stieg langsam an. Die Seevermessung konnte wieder aufgenommen werden. Er hatte bei seiner übergreifenden Planung einen Spielraum einkalkuliert und wußte, daß sie sich nicht verspäten würden. Drei kräftige Stürme hatte er einberechnet.
Er sah auf seiner Uhr, daß es Frühstückszeit war.
Da hörte er einen Ruf. Es klang wie ein Jammern. Als er sich umdrehte, sah er einen Matrosen, der sich über die Reling beugte und aufgeregt mit einer Hand winkte. Irgend etwas im Wasser hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
Leutnant Jakobsson und Lars Tobiasson-Svartman kamen gleichzeitig bei dem gestikulierenden Mann an. Leutnant Jakobssons Gesicht war zur Hälfte mit Rasierschaum bedeckt.
Neben dem Bug schaukelte eine Leiche. Es war ein Mann, sein Gesicht war im Wasser. Er trug keine schwedische Uniform. Aber war sie deutsch oder russisch?
Mit Hilfe einiger Seile und Draggen wurde der Körper an Bord gehoben. Die Matrosen drehten ihn auf den Rücken. Ein junger Mann mit blonden Haaren. Aber ihm fehlten die Augen. Sie waren von Fischen oder vielleicht von Vögeln gefressen worden. Leutnant Jakobsson stöhnte auf.
Lars Tobiasson-Svartman versuchte, nach der Reling zu greifen. Aber er erreichte sie nicht, bevor er in Ohnmacht fiel. Als er die Augen aufschlug, beugte sich Leutnant Jakobsson über ihn. Ein paar Tropfen von dem weißen Rasierschaum trafen seine Stirn. Er erhob sich langsam, winkte denen, die ihm zu Hilfe kommen wollten, abwehrend zu.
In ihm wuchs die Demütigung. Er hatte nicht nur die Kontrolle verloren, er hatte auch vor der Besatzung des Schiffs Schwäche gezeigt.
Erst war Rudin gestorben. Und nun diese Leiche, die aus dem Meer gezogen worden war. Das war zuviel, eine Last, die er nicht bewältigen konnte.
Lars Tobiasson-Svartman hatte zuvor in seinem Leben erst einen toten Menschen gesehen. Es war sein Vater, der nach einem schweren Schlaganfall gestorben war, als er sich eines Nachmittags umzog. Der Vater starb auf dem Boden neben seinem Bett, gerade als der Sohn das Schlafzimmer betreten hatte, um zum Essen zu rufen.
Einen Schuh hielt er in der Hand, als wollte er sich gegen einen Angreifer verteidigen.
Lars Tobiasson-Svartman war es nie gelungen, den Anblick des halbnackten und fetten Körpers zu vergessen. Oft hatte er gedacht, daß der Vater ihn ein letztes Mal hatte strafen wollen, indem er vor seinen Augen starb.
Der Tote war sehr jung. Leutnant Jakobsson beugte sich hinunter und legte ein Taschentuch über die leeren Augenhöhlen.
»Eine deutsche Uniform«, sagte er. »Er hat der deutschen Marine angehört.«
Leutnant Jakobsson fing an, die Uniformjacke des Toten aufzuknöpfen. Er fühlte in den Innentaschen nach und zog ein paar durchweichte Dokumente und Photographien heraus.
»Ich habe keine größeren Erfahrungen mit toten Seeleuten«, sagte er. »Das heißt natürlich nicht, daß ich noch nie tote Menschen aus dem Meer gefischt hätte. Ich glaube nicht, daß dieser Mann besonders lange im Wasser gelegen hat. Er hat keine Verletzungen, die darauf hindeuten, daß er im Kampf gestorben ist. Vermutlich ist er durch ein Unglück über Bord gefallen.«
Leutnant Jakobsson stand auf und gab Anweisung, die Leiche zu bedecken. Lars Tobiasson-Svartman folgte ihm in die Messe. Als sie sich gesetzt hatten und die Dokumente und Photographien auf dem Tisch lagen, bemerkte Leutnant Jakobsson, daß er noch immer Rasierschaum im Gesicht hatte. Er ließ sich vom Stewart ein Handtuch bringen und wischte sich das Gesicht ab. Als Lars Tobiasson-Svartman das zur Hälfte rasierte Gesicht sah, konnte er nicht umhin, in hysterisches Gelächter auszubrechen. Leutnant Jakobsson hob erstaunt die Augenbrauen. Lars Tobiasson-Svartman kam in den Sinn, daß er zum ersten Mal laut gelacht hatte, seit er
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