Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Rake hatte antworten können. Dann trat er zur Seite und verschwand eine Treppe hinunter.
    Rake erwartete ihn mit aufgeknöpfter Uniformjacke. In der Hand hielt er einen Brief.

    Er sah sogleich, daß er von Kristina Tacker war. Ihre Handschrift war charakteristisch, mit kräftigen Schwüngen bei den Großbuchstaben. Am liebsten hätte er Rake sofort verlassen und wäre in seine Kajüte zurückgekehrt, um den Brief zu lesen.
    Früher war er besorgt gewesen, wenn sie nicht schrieb. Jetzt war das Gefühl ins Gegenteil umgeschlagen, und er fragte sich, was der Brief enthalten mochte.
    Rake bot ihm Kognak an. Lars Tobiasson-Svartman bemerkte, daß er einen Trauerflor am linken Arm trug.
    Rake fing seinen Blick auf. »Meine Mutter ist gestorben. Für die Tage bis zur Beerdigung gehe ich in Kalmar an Land und überlasse Leutnant Sundfeldt das Kommando.«
    »Mein herzliches Beileid.«
    Rake füllte sein Glas. »Meine Mutter ist 102 Jahre alt geworden«, sagte er. »Sie wurde 1812 geboren und hätte also, wenn sie in Frankreich gelebt hätte, Napoleon begegnen können. Ihre Mutter war in den 1780er Jahren geboren, ich erinnere mich nicht an das exakte Datum. Aber es war vor dem Ausbruch der französischen Revolution. Wenn ich die Hand meiner Mutter berührte, dachte ich oft, daß ich die Haut eines Menschen spürte, der seinerseits die Haut und die Atemzüge von Menschen gespürt hatte, die im 18. Jahrhundert geboren waren. Die Zeit kann unter bestimmten Verhältnissen auf eine fast unfaßbare Weise schrumpfen.
    Es ist schwer, einen Menschen zu betrauern, der 102 Jahre alt geworden ist. Die letzten zehn Jahre hat sie mich nicht mehr erkannt. Manchmal hat sie gedacht, ich sei ihr verstorbener Mann, also mein eigener Vater.
    Das höchste Alter ist eine seelische Feldschlacht, die sich in totaler Dunkelheit abspielt. Eine Feldschlacht, die unerbittlich zu einer Niederlage führt. Angesichts dieser Dunkelheit und Erniedrigung des Alters haben uns die Religionen weder Trost noch eine erträgliche Erklärung geboten.
    Aber auch für einen 102 Jahre alten Menschen kann der Tod plötzlich und überraschend kommen. Es mag eigenartig erscheinen, aber der Tod kommt stets als Störenfried, wann immer er kommt. Obwohl meine Mutter geistig umnachtet war, besaß sie einen starken Lebenswillen. Sie wollte nicht sterben, obwohl sie so alt war.«
    Lars Tobiasson-Svartman machte sich zum Gehen bereit.
    Aber Rake hielt ihn zurück. »Vor der Bucht von Riga hat es eine militärische Konfrontation gegeben«, sagte er. »Unsere tüchtigen Funker, die die Kommunikation zwischen den Kapitänen und dem deutschen wie russischen Oberkommando belauschen, haben die Kämpfe bestätigen können. Der Zusammenstoß ereignete sich Ende der letzten Woche. Ein deutscher Kreuzer wurde von Torpedoeinschlägen beschädigt, konnte sich aber nach Kiel zurückschleppen. Zwei russische Schiffe, ein Torpedoboot und ein Truppenschiff, wurden torpediert und versenkt.«
    »Gibt es irgend etwas, das darauf hindeutet, daß Schweden in den Krieg hineingezogen werden wird?«
    »Nichts. Aber es gibt natürlich verschiedene Meinungen. Zum Beispiel meine eigene. Daß wir uns der deutschen Seite anschließen sollten.«
    Lars Tobiasson-Svartman staunte. Der Fregattenkapitän erklärte offen, daß er ein Gegner der schwedischen, vom Reichstag und der Regierung beschlossenen Neutralität war. Ein kraftvoller Marineminister hätte ihm sofort das Kommando entzogen, wenn er gewußt hätte, was hier geäußert wurde. Die Frage war, ob ein schwedischer Marineminister es wagen würde, sich mit seinen höchsten Schiffskommandanten anzulegen.
    Rake schien seine Gedanken zu lesen. »Es ist natürlich verboten, etwas Derartiges zu äußern. Aber ich sorge mich nicht besonders um die Konsequenzen. Schlimmstenfalls muß ich mich auf eine mangelnde Urteilskraft aufgrund des plötzlichen Todes meiner Mutter berufen.«
    Er erhob sich. Die Audienz war beendet. Er überreichte den Brief und öffnete die Tür zum Deck, dann begleitete er ihn zur Landungsbrücke, die steil vom Deck des Kanonenboots hinabführte.
    »Ich denke an den deutschen Matrosen«, sagte Rake. »Unten an der Bucht von Riga treiben jetzt viele Körper im Wasser. Alle Meere sind Friedhöfe. Aber in der Ostsee gibt es keine Gebeine am Meeresboden. Eine große Begräbnisstätte ohne Skelette. Der Mangel an Kalk bewirkt, daß sie sich hier rasch auflösen, so habe ich es zumindest gehört.«
    Sie trennten sich an der

Weitere Kostenlose Bücher