Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
anderen Menschen zu entweihen. Das Schätzen konnte ein lustiges Spiel sein, aber keine Art, sich zum Abendessen oder zu anderen ernsthaften Gegebenheiten zu verhalten. Beispielsweise für Kontrollen der Tiefe in geheimen Fahrwassern verantwortlich zu sein.
    Er schrieb die Aufzeichnungen des Tages ins reine und machte einen Plan, wie die Arbeit fortzusetzen wäre. Sie mußten einen Rückzug auf ungefähr 150 Meter in Kauf nehmen. Wo sie auf die frühere Strecke des Fahrwassers stießen, würden sie ihre Kontrollmessungen fortführen.
    Er berechnete die erforderliche Zeit. Wenn nichts Unvorhergesehenes eintraf, würden sie trotzdem am 1. Dezember fertig sein.
    Er legte das Logbuch weg, schraubte die Flamme herunter und streckte sich in der Koje aus. Es knarrte leise im Rumpf. An Deck waren die Schritte der Wache zu hören. Jemand hustete. Er dachte, daß an Bord von Marineschiffen mehr oder weniger heftige Epidemien von Husten umgingen. Auf den Schiffen rollte es wie ein Echo aus einem gemeinsamen Brustkorb. An Bord eines Kriegsschiffs zu sein bedeutete, daß der Wind und das Geräusch der Maschinen sich immer mit dem Husten eines Mannes vermischten.
    Er stellte sich eine Besatzung auf einem großen Schlachtschiff vor, vielleicht zweitausend Mann, die vor ihren Vorgesetzten strammstanden und im gleichen Takt husteten.
    Dann dachte er an den Matrosen, den er geschlagen hatte. Was wußte er von ihm? Er war neunzehn, kam aus dem Landesinneren, aus Vimmerby, und hieß Mats Lindegren. Das war alles. Der Junge sprach einen fast unverständlichen Dialekt, er roch nach Schweiß und wirkte ängstlich. Ein unbedeutender Mensch mit einem bleichen, pickligen Gesicht, außerdem unnatürlich mager. Es war etwas Vages und Entgleitendes an ihm. Warum war er zur Flotte gegangen? Es war unbegreiflich, auch wenn er nicht zu denen gehörte, die am schlimmsten von der Seekrankheit betroffen waren. Das wußte er von Leutnant Jakobsson, der offenbar immer private Protokolle darüber führte, wer von der Besatzung - er selbst eingeschlossen - arbeitsunfähig war, wenn es stark stürmte. Mats Lindegren gehörte nicht zu den Betroffenen. Weder übergab er sich, noch wurde ihm schwindlig.
    In der Dunkelheit ahnte Lars Tobiasson-Svartman plötzlich, warum er sich nicht hatte beherrschen können. Der gähnende Matrose mit dem klebrigen Rotz hatte Ähnlichkeit mit dem toten Matrosen Richter, den man ein paar Wochen zuvor aus dem Meer gezogen hatte. Die Gleichgültigkeit und die Tatsache, daß sie auf einen mächtigen Unterwasserrücken gestoßen waren, so daß seine allzu hoch fliegenden Pläne zunichte gemacht waren, hatten ihn die Kontrolle verlieren lassen.
    Er schloß die Augen und dachte an seine Frau. Sie kam ihm in der Dunkelheit entgegen, es wurde langsam ganz ruhig in ihm, die Kajüte füllte sich mit einem süßlichen Duft, und schließlich gelang es ihm einzuschlafen.Sie folgte ihm in den Schlaf.
    Es war das Jahr 1905, sie hatten gerade geheiratet und waren auf Hochzeitsreise in Kristiania. Der Streit um das Sein oder Nichtsein der schwedisch-norwegischen Union befand sich in seiner hitzigsten Phase, und er hatte ahnungslos den Fehler begangen, in Uniform mit ihr über den Karl-Johan-Boulevard zu spazieren. Ungefähr in Höhe der Universität hatte ihm jemand etwas nachgerufen, noch im Traum konnte er sich an die Worte und die gehässige Stimme erinnern: »Schwedenteufel, geh heim.« Aber als er sich umgedreht hatte, war der Sprecher nicht zu erkennen, nur Menschen, die das Gesicht abwandten oder mit niedergeschlagenem Blick lächelten. Sie wohnten im Grand Hotel, und er war sofort dorthin zurückgekehrt. Kristina Tacker war so erschrocken, daß sie die Stadt hatte verlassen wollen, aber er hatte sich geweigert. Er hatte sich Zivilkleidung angezogen, sie waren wieder hinausgegangen, und niemand hatte ihnen nachgerufen. Niemand hatte sich unwillig gezeigt, als sie ins Restaurant Blom oder auf die Veranda des Grand Hotel gingen, auch nicht, als sie das neuerbaute Nationaltheater besuchten. Sie sahen Johanne Dybwad als Frau Helene Alving in Ibsens Drama »Gespenster«. Seine Frau fand die Vorstellung abscheulich. Er stimmte ihr höflich zu, aber in Wirklichkeit war er getroffen und ergriffen, da das Stück ihn an seine eigene Jugend erinnerte und unbarmherzige Bilder von Schmerz und Scham hervorrief.
    So weit war der Traum deutlich, ein Erinnerungsalbum, das Seite für Seite aufgeblättert wurde. Dann verwandelte sich rasch alles in ein

Weitere Kostenlose Bücher