Tiefe
um die Inseln zu verteidigen. Plötzlich begann ich zu verstehen, was der Krieg war, diese Feuer in der Nacht, die Druckwellen und das Donnern und Menschen, die zu Tausenden starben.«
»Und dann kam er? Der sich da drinnen in den Netzen verfangen hat?«
»Ich bekam Angst, als es klopfte. Ich öffnete nicht. Ich nahm ein Messer. Er trug eine Uniform und redete in einer Sprache, die ich nicht verstand, es klang wie bei einem Aalaufkäufer, den ich einmal als Kind gehört hatte. Aber als der da draußen in Ohnmacht fiel, war er nicht mehr gefährlich. Ich schleppte ihn herein, seine Rippen fühlten sich unter der Jacke an wie Hühnerknochen, vielleicht war er krank, ich dachte, er würde sterben. Ich konnte mir den Tod holen, er konnte eine tödliche Krankheit haben. Zwei Nächte lang schlief ich im Boot. Er kam zu sich und phantasierte, er hatte Fieber, aber er war nicht verwundet, nur hungrig und ausgetrocknet. Schließlich begriff ich, daß er ein Deutscher war. Er hatte versucht mir zu erklären, wer er war, aber ich verstand nicht, was er sagte. Die Worte sind wie glatte Steine. Aber er hatte Angst, ich habe gesehen, daß er immerzu horchte, sogar wenn er schlief, hat er die Ohren aufgespannt und den Kopf und die Augen auf irgend etwas hinter ihm gerichtet.«
»Bin ich gefährlich?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich habe hier geschlafen.«
Sie zögerte. Es zuckte in ihrem Gesicht, sie schüttelte ungeduldig die Haare weg, die ihr in die Augen fielen. Dann stand sie hastig auf, es war, als täte sie einen Sprung, und öffnete die Tür zur Vorratskammer.
Der Soldat kam heraus. Er blieb regungslos stehen, wachsam, bereit, sich zu verteidigen.
Sara Fredrika sagte, obwohl sie wußte, daß er es nicht verstand: »Er ist nicht gefährlich, er ist ein Militär wie du, er ist schon früher hiergewesen.«
Lars Tobiasson-Svartman betrachtete den Soldaten. Er trug die gleiche Uniform wie Karl-Heinz Richter, als sie seinen durchnäßten, halb aufgelösten Körper im Kanonenboot Blenda an Bord zogen. Das Gesicht war bleich, die Haare waren dünn, er mochte fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt sein.
Aber es war etwas Besonderes mit den Augen des Matrosen: er versuchte nicht nur, mit ihnen zu sehen, sondern auch, mit ihnen zu lauschen, Gerüche wahrzunehmen, Gedanken zu lesen.
Er streckte die Hand aus und sprach langsam auf deutsch. »Ich heiße Lars Tobiasson-Svartman, ich vermesse die Tiefen, ich bin durch einen plötzlichen Riß im Eis von meinen Freunden getrennt worden.«
Das Wort für »Spalte« kannte er nicht auf deutsch, aber »Riß« war fast das gleiche. Der Deutsche schien zu verstehen.
Der Matrose nahm vorsichtig seine Hand. Sein Griff war schlapp, wie der von Kristina Tackers Hand. »Dorflinger.«
»Sind Sie übers Eis gekommen?«
Der Soldat zögerte, ehe er antwortete. »Ich bin weggegangen.«
»Wie ich sehe, gehören Sie der deutschen Marine an. In den Fahrwassern hier draußen finden Kämpfe von russischen und deutschen Flotteneinheiten statt.
Lars Tobiasson-Svartman begriff, daß er einen deutschen Deserteur vor sich hatte, einen jungen Mann, der von seinem Schiff geflüchtet war, verzweifelt versucht hatte zu entkommen. Es erfüllte ihn mit Abscheu. Deserteure waren feige. Sie liefen weg. Deserteure hätten es verdient, hingerichtet zu werden. Es gab keine andere Möglichkeit, die Verräter zu behandeln. Sie behaupteten, sie seien sich selber treu, aber in Wirklichkeit waren sie allen anderen untreu. Mit welchem Recht war der Deserteur gekommen und hatte sich ihm in den Weg gestellt, ihm, der aus einem inneren Drang heraus seine Ehefrau und seine Karriere aufs Spiel setzte? Was riskierte der Deserteur? Er, der nur seine eigene Feigheit verteidigte?
Sie standen in dem Raum wie die Spitzen in einem Dreieck. Er versuchte festzustellen, ob Sara Fredrika ihm näher war als dem Deserteur. Aber es gab keine Abstände, es war, als wäre das Haus selbst in Bewegung, oder vielleicht war es ganz Halsskär, das sich langsam verschob, getrieben vom Eis, das gegen die Klippen drängte.
Das Eis, dachte er, das Eis und die tote Katze. Alles gehört zusammen. Und jetzt ein Mann, der mir im Weg steht.
Er lächelte. »Vielleicht sollten wir uns setzen«, sagte er zu Sara Fredrika. »Ich glaube, daß der Herr Marinesoldat Dorf-linger müde ist.«
»Was sagt er? Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«
»Dorflinger.«
»Ist das ein Vorname?«
»Nein.«
Er fragte nach dem Vornamen.
»Stefan. Ich heiße
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