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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Stefan Dorflinger.«
    »Woher kommen Sie?«
    »Warum wurden Sie von der Marine eingezogen?«
    »Ich habe mich freiwillig gemeldet. Um das Meer zu sehen. Wir fuhren von Kiel los, in einer Flotteneinheit von Admiral Wettenberg.«
    Stefan Dorflinger hatte sich auf die Pritsche sinken lassen. Sara Fredrika bewegte sich in den Schatten. Lars Tobiasson-Svartman setzte sich auf den Hocker bei der Feuerstelle, versuchte, es ganz lautlos zu tun, warum, wußte er selbst nicht. Allzuoft tat er Dinge mit Entschiedenheit, obwohl er nicht wußte, warum.
    »Hier sind Sie sicher«, sagte er. »Auch wenn Sie der sind, für den ich Sie halte.«
    »Und für wen halten Sie mich?«
    »Für einen Deserteur.«
    »Ich habe es nicht mehr ausgehalten.«
    Es kam wie ein Schrei. Als der Soldat weitersprach, war er wieder ruhig. »Ich habe es nicht ausgehalten mit all dem Töten. Ich kann das beschreiben, was eigentlich nicht zu beschreiben ist, das, wovor sich sogar die Wörter ducken. Es gibt Ereignisse, die auch die Worte scheuen, die nicht für eine Beschreibung benutzt werden wollen. Ich habe von Worten geträumt, die um ihr Leben laufen, auf die gleiche Art, wie ich gelaufen bin.«
    Er verstummte und holte heftig Luft. Lars Tobiasson-Svartman dachte flüchtig, daß gleich noch ein Mensch tot vor seinen Füßen niederfallen würde.
    Aber Stefan Dorflinger fuhr fort, als hätte er sich an die Oberfläche gekämpft und könnte wieder Luft in die Lungen ziehen. »Ich war auf dem Schlachtkreuzer Weinshorn. Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags wurden nordöstlich von Rügen zwei russische Panzerschiffe gesichtet. Das Wetter war ruhig, aber sehr kalt, Dunst stieg aus dem Meer auf, als könnte auch die Kälte einen Siedepunkt erreichen.
    Ich gehörte zur Besatzung an einer der Kanonen abfeuern, die mit relativer Treffsicherheit über 130 Hektometer weit reichten. Wir bekamen den Befehl, klar Schiff zu machen und sofort die Gefechtsstationen zu bemannen. Ich hatte meinen Posten bei der unteren Station auf dem Munitionsdeck. Meine Aufgabe war es, die Pulverkartuschen in den Aufzug zu laden, der zur Laderampe oben an Deck ging -
    Wir haben neunzehn Schuß aus meiner Kanone abgefeuert, es war ein entsetzliches Inferno, ich sah nicht, ob wir trafen, ich sah nicht, womit wir schössen, jeder Schuß warf uns gegen die Wände. Einige bluteten aus Augen und Nase, mir platzten schon beim ersten Schuß die Trommelfelle.
    Ich hatte gar nicht gemerkt, daß die Kanonen verstummten, derjenige, der den zweiten Aufzug bediente, mußte mich schütteln und darauf zeigen. Die Kanone schwieg, wir sollten zum Deck zurückkehren. Ich hörte nichts, es war, als befände ich mich hinter dicken Glasscheiben. Es ist eine andere Wirklichkeit, die sich offenbart, wenn man nur die Augen zu Hilfe hat. Wenn die Geräusche und Stimmen weg sind, wird die Wirklichkeit eine andere.
    Die Weinshorn navigierte näher zu den Truppentransportschiffen hin, die im Sinken begriffen waren. Das Wasser war von brennendem Öl bedeckt. Hunderte von schreienden Menschen kämpften, um nicht zu ertrinken, gegen das Feuer, gegen das Öl. Aber die Weinshorn tat nichts. Kein einziges Rettungsboot wurde hinuntergelassen, kein einziger Rettungsring wurde geworfen, kein Tauende, nichts.
    Ich sah zu den Kameraden hin. Genau wie ich starrten sie mit Entsetzen auf alle, die starben, und niemand verstand, warum wir sie nicht zu retten versuchten. Wir befanden uns zwar im Krieg mit Rußland, aber diese Menschen waren ja besiegt. Wir sahen zu, wie sie starben, und ich erinnere mich, wie unsere Knöchel weiß wurden, als wir die Reling umklammerten. Wir sahen die Offiziere oben auf der Kommandobrücke, wie sie lachten und ins Wasser deuteten.
    Ich hörte die Schreie ebensowenig wie das Lachen. Da waren nur der furchtbare Tod in dem kalten Wasser und das brennende Öl. Schließlich war keiner übrig, alle waren tot, die meistens waren untergegangen, vereinzelte Körper trieben rauchend dahin. Einige waren so stark verbrannt, daß man die Knochen aus den zerfetzten Uniformen herausragen sah.
    Dann verließ die Weinshorn den Ort. Das war vielleicht das Grauenhafteste. Wir blieben nicht einmal da. Wir nahmen Kurs gen Südwesten, und am Nachmittag wurden Weihnachtsbäume auf dem Achterdeck aufgestellt, und man sang Weihnachtslieder. Ich hörte immer noch nichts, ich sah nur meine Kameraden, die um den Weihnachtsbaum hüpften und tanzten, und ich fühlte, daß ich fortmußte.
    Zwei Tage nach dem Neujahrsabend,

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