Tiefe
Bucht hinunter, sie machten sich auf den Weg. Plötzlich blieb er stehen, ergriff ihren Arm und zog sie an sich. Sie ließ es geschehen.
Erst war die Eifersucht klein gewesen, kriechend und nicht besonders lästig. Jetzt wuchs sie zu etwas Unerträglichem heran.
Danach kam der Zorn.
Sein Vater hatte einmal bei einer Einladung zum Essen davon gesprochen, wie wichtig es für die Menschen sei, es den Schlangen gleichzutun. Unterkühltes Blut, endlose Geduld und giftige Zähne, die exakt im richtigen Augenblick zuschnappten. Er selbst war nicht bei den Gästen gesessen, er war noch ein Kind. Aber er hatte an einer Türspalte gelauscht.
Danach hatte er Kreuzotter gespielt. Er hatte sich in Braun gekleidet, Farbstriche auf die Zunge gemalt, damit sie sich spaltete, und versucht, sich voranzuschlängeln, geduldig im Schatten eines Baums zu warten, sich auf einer warmen Felsplatte auszustrecken. Er hatte sogar gelernt, dünne Strahlen von Speichel durch die Schneidezähne zu spucken.
Als er acht Jahre alt war, hatte er sich zu der äußersten Schlangenprobe gezwungen. Er hatte eine lebende Maus in einer Falle gefangen und sie dann zu Tode gebissen. Aber er hatte sich nicht dazu bringen können, sie aufzuessen.
Jetzt war etwas Ungewöhnliches eingetreten. Ein Deserteur war ihm in den Weg gekommen.
Ich werde ihn töten, dachte er. Und ich werde ihr die Haare abschneiden, die er mit seinen Händen berührt hat.
Er blieb regungslos auf dem Felsabsatz sitzen, bis sie verschwunden waren. Dann ging er in die Hütte, fand die Papiere im Waffenrock des Deserteurs und studierte sie.
Stefan Dorflinger, geboren in Siegburg am 12. September 1888. Die Eltern: Karl, Trompeter bei der Armee, und Elfriede Dorflinger. Im Dienstbuch war angegeben, daß Stefan Dorflinger als gemeiner Soldat bei der Geschützmannschaft auf dem Schlachtkreuzer Weinshorn im November 1912 angemustert hatte. Mehrere regelmäßig wiederkehrende Dienstvermerke stellten ihm ein gutes Zeugnis aus. Außer den Dokumenten gab es eine Photographie seiner Eltern. Karl Dorflinger hatte einen kräftigen Schnurrbart, war ein freundlich lächelnder Mann, aber aufgedunsen. Elfriede Dorflinger war ebenfalls dick, ihr Kopf ruhte ohne Hals auf den Schultern. Ein Trompeter und eine Hausfrau, photographiert in einem Biergarten. Eine schattenhafte, unscharfe Kellnerin eilte im Hintergrund mit Bierkrügen auf einem Tablett vorbei.
Karl und Elfriede Dorflinger hielten einander an der Hand. 'Lange betrachtete er diese Photographie. Zwei fette Menschen, die sich an der Hand hielten.
Er dachte an die Bilder, die von ihm und Kristina Tacker existierten. Sie hatten sich angewöhnt, mindestens einmal pro Jahr zum Photographen zu gehen. Aber es gab kein Bild, auf dem sie physischen Kontakt miteinander hatten, keine verflochtenen Hände, nicht einmal eine Hand auf der Schulter des anderen.
Er legte die Dokumente zurück und holte den Feldstecher aus seinem Seesack. Er öffnete die Haustür und setzte den Feldstecher an die Augen.
Das Bild war unscharf. Das Bild war für ihre Augen.
E r stand mit dem Feldstecher in der Hand da, als er ihre Schritte hörte.
Er legte ihn auf den Boden, schloß die Tür und setzte sich an der Hauswand in die Sonne.
Sie kamen angelaufen. Beide waren atemlos.
»Es sind Leute auf dem Eis«, sagte sie.
»Haben sie euch gesehen?«
»Ja.«
Er überlegte. »Haben sie euch deutlich gesehen, oder nur, daß ihr zu zweit wart?«
»Sie waren weit weg, an den kleinen Felsen bei den Händelsöarna.«
Die Händelsöarna lagen weiter als einen Kilometer von Halsskär entfernt. Wenn die Jäger keine Feldstecher hatten, konnten sie unmöglich die Menschen identifiziert haben, die sie gesehen hatten.
»Wenn sie kommen, müssen wir sagen, daß sie dich und mich gesehen haben. Ob sie hier übernachten wollen?«
»Sie müssen sich Hütten auf dem Eis bauen. Alle wissen, daß ich keine unbekannten Männer in meiner Hütte übernachten lasse. Falls nicht ein Sturm herrscht oder ein Unglück geschehen ist.«
»Er muß sich draußen verstecken.«
Er erklärte es ihm rasch. Der Deserteur verstand, schien ihm jetzt zu vertrauen, er zögerte nicht, als sie gleich darauf hinaus zu den Klippen gingen. Er führte den Deserteur zu einer Kluft, in der er sich hinkauern konnte.
»Warum tust du das für mich?«
»Ich hätte dasselbe getan wie du«, erwiderte Lars Tobias-son-Svartman, »und ich würde hoffen, jemanden zu treffen, der bereit wäre, mir dieselbe Hilfe zu
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