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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Seine einzige Sorge war, daß er den Boden nicht erreichen könnte.
    Er hatte diesen Traum schon oft gehabt, war aber früher immer aufgewacht, bevor er den Boden erreichte.
    So war es auch jetzt. Als er die Augen aufschlug, war der Boden immer noch weit entfernt.
    Er blieb im Bett liegen. Die Enttäuschung darüber, daß er den Boden nicht erreicht hatte, schlug in den intensiven Wunsch um, Ludwig Tacker zu töten.
    Irgendwo gibt es auch für ihn ein Loch im Eis, dachte er. Einmal wird auch Ludwig Tacker auf den Meeresboden sinken, mit Eisenstücken, die an seinem Körper befestigt sind.
    Ei
n Gepäckträger karrte seine Säcke durch die Stadt. Pferde zogen Pflüge zwischen den Schneewehen. Es war immer noch kalt. Er hielt eine Hand vor den Mund, während er dem Gepäckträger auf den Fersen folgte.
    Ich habe Angst, dachte er. Nicht wegen der Dinge, die ich getan habe, sondern weil sie direkt durch mich hindurchschauen wird, genau wie ihr Vater mit seinen schrecklichen Augen.
    Er sehnte sich nach der Stille und dem Eis. Es war, als würde ihm die Stadt den Rücken kehren.
    Sein Schwiegervater war ihm zuvorgekommen. Kristina Tackers Überraschung, ihn zu sehen, war gespielt. Das Dienstmädchen nahm ihm den Mantel ab und verschwand.
    »Ich bin gestern erst spät in die Stadt gekommen. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
    »Du hättest mich nicht erschreckt.«
    Sie nahm seine Hand und zog ihn in das Zimmer, das mitten in der Wohnung lag, das wärmste Zimmer im Winter, das kühlste im Sommer. Auf einem Tisch standen Blumen.
    Er war sofort auf der Hut. Sie kaufte nie Blumen.
    Sie setzte sich ganz vorn auf einen der roten Plüschsessel und sagte etwas mit so leiser Stimme, daß er ihre Worte zunächst nicht verstand.
    »Ich habe dich nicht verstanden.«
    »Ich erwarte ein Kind.«
    Er bewegte sich nicht. Trotzdem war es, als finge er an zu laufen.
    »Ich habe darauf gewartet, es dir sagen zu können.«
    Er setzte sich neben ihr auf einen Sessel.
    »Freust du dich?«
    »Natürlich freue ich mich.«
    »Das Kind soll im September zur Welt kommen.«
    Er rechnete im Kopf nach und wußte sofort, wann es gezeugt worden war, in der ersten Nacht nach seiner Heimkehr im Dezember.
    »Ich habe mir immer ein Kind gewünscht.«
    Sie streckte die Hand aus. Sie war kalt. Sara Fredrikas Hände waren immer warm gewesen.
    Er hielt ihre Hand und sehnte sich intensiv zurück nach Halsskär. Als er übers Eis gegangen war, hatte er gedacht, er würde niemals wiederkehren. Sara Fredrika würde dasein und auf ihn warten. Aber das Eis würde aufbrechen, bevor er zurückkam, das Meer würde sich öffnen, doch er würde nicht zu ihrer Insel zurückkehren.
    Kristina Tacker sagte etwas, was er nicht verstand. Er dachte an Sara Fredrika und fühlte sein Begehren wachsen. Das, wonach er sich sehnte, war woanders. Nicht hier im wärmsten Zimmer in der Wallingata.
    »Das Leben wird sich verändern«, sagte sie.
    »Das Leben wird so werden, wie wir es uns vorgestellt haben«, antwortete er.
    Er stand auf und ging zum Fenster hin, da er ihr nicht in die Augen sehen konnte.
    Er hörte, wie sie das Zimmer verließ. Ihre Schritte waren leicht. Es gab einen Klang, als sie ihre Porzellanfiguren herumschob.
    Er machte die Augen zu und dachte: Jetzt sinke ich dem Punkt entgegen, an dem es keinen Boden gibt.
    Am folgenden Tag verließ er die Wohnung gegen neun. Er zwang sich, schnell zu gehen, um die Müdigkeit abzuschütteln.
    In der Nacht hatte er nicht schlafen können. Als Kristina Tacker eingeschlafen war, hatte er den Duft ihrer Haut eingeatmet und dann vorsichtig das Bett verlassen. Er war in der Wohnung herumgegangen und hatte zu verstehen versucht, was gerade geschah. Er war im Begriff, die Kontrolle über sein Dasein zu verlieren. Das war ihm noch nie zuvor passiert. Seine Instrumente wirkten nicht mehr.
    Er hatte mit einer ihrer Porzellanfiguren dagestanden, es war kurz vor Morgengrauen, in der längsten Stunde. Er hatte den Gedanken laut gedacht, er hatte ihn der Porzellanfigur mit dem kindlich bemalten Gesicht zugeflüstert: Tatsächlich bin ich es selbst, der nicht mehr funktioniert.
    Er durfte es nicht auf die Instrumente schieben.
    Als er auf dem Skeppsholmen ankam, war er außer Atem. Er wartete, bis der Puls sich wieder normalisiert hatte, bevor er durch die hohe Tür eintrat.
    Lars Tobiasson-Svartman ging durch die hallenden Korridore und meldete sich bei einem Leutnant namens Berg.
    Leutnant Berg betrachtete ihn erstaunt. »Niemand hat Ihre

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