Tiefe
sagte sie.
Er legte die Zeitschrift weg und deutete auf das Sofa vor einem der hohen Fenster. Sie ließ sich schwer darauf sinken.
»Du störst mich nicht«, antwortete er. »Wie könntest du mich stören?«
»Ich habe über das nachgedacht, was geschehen ist.«
»Wir müssen dankbar sein, daß er nicht schwerer verletzt wurde.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Person, die versucht, einen Menschen zu töten, den sie nicht kennt?«
»Es ist wie im Krieg.«
»Wie meinst du das?«
»Man tötet keine Menschen, man tötet Feinde. Und der Feind ist fast immer gesichtslos. Dieser Mann hier führt seinen eigenen, geheimen Krieg. Alle sind seine Feinde, keiner ist sein Freund.«
Sie fragte nichts weiter, sondern verließ das Zimmer.
Er griff nach einer Zeitung und las über sich selbst. Über den Verrückten, nach dem gefahndet wurde.
Ich bin ganz ruhig, dachte er. Niemand faßt mich, niemand weiß etwas. Der Mann, der aus der Dunkelheit auftauchte, ist wieder fort. Er wird nicht wiederkehren, er wird ein Rätsel bleiben.
Einen kurzen Augenblick lang war die Versuchung groß, Ludwig Tacker zu erzählen, wer sich hinter dem Schal verborgen hatte.
»Es tut mir sehr leid, was geschehen ist«, sagte er. »Es ist die Pflicht der Polizei, den Verrückten aufzuspüren. Wir können nur hoffen, daß es ihr gelingt. Ich bin froh, daß es trotz allem nicht mit einer Katastrophe geendet hat.«
Ludwig Tacker betrachtete ihn, ohne etwas zu sagen. Dann winkte er abwehrend mit der Hand. Er wollte in Ruhe gelassen werden.
Lars Tobiasson-Svartman setzte sich auf eine Bank im Humlegärden-Park.
Das bin ich nicht, dachte er. In kurzen Momenten bin ich jemand anders, vielleicht mein Vater, vielleicht jemand, den ich mir nicht einmal vorstellen kann. Ich suche nach etwas, nach einem Boden, den es nicht gibt, weder im Meer noch in mir selbst.
Die Gedanken glitten davon. Kinder spielten im Park. Sein Kopf war ganz leer. Plötzlich überkam ihn eine große Müdigkeit, wie ein schleichender Nebelgürtel.
Als er erwachte, war es schon spät am Nachmittag. Er ging nach Hause.
In der Wohnung wartete das Dienstmädchen mit rotgeweinten Augen. Die Wehen hatten eingesetzt, obwohl es noch lange vor der Zeit war.
Die Aufregung, dachte er.
Ihre Aufregung und Angst, die ich jetzt teile. Ich hatte gehofft, daß Ludwig Tacker sterben würde.
Es endet vielleicht statt dessen damit, daß ich mein eigenes Kind töte.
Am Abend gebar Kristina Tacker eine Tochter. Die Ärzte waren sehr unsicher, ob das Kind überleben würde. In den folgenden Tagen verließ Lars Tobiasson-Svartman die Wohnung nicht. Er ließ das Dienstmädchen mit Auskünften vom Serafimerlazarett kommen und gehen.
Die Tage waren schwül. In den Nächten, wenn das Dienstmädchen erschöpft eingeschlafen war, ging er oft nackt in den Zimmern umher. Er saß häufig an seinem Arbeitstisch, um aufzuschreiben, was er dachte. Aber er entdeckte ein ums andere Mal, daß er keine Gedanken hatte, in ihm war nichts als eine große Leere.
Eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, packte er einen Koffer. Er versuchte, die Sachen so zu falten, als wäre es seine Frau, die das Gepäck vorbereitete.
Die Porzellanfiguren standen stumm in ihren Regalen. Er wartete.
Am 2. August erhielt er eine telephonische Nachricht von einem Oberarzt namens Edman.
Er solle sich unverzüglich im Krankenhaus einfinden. Seine Panik wuchs so stark, daß er Magenkrämpfe bekam. Zusammengekrümmt vor Schmerz verließ er die Wohnung.
Wenn das Kind gestorben wäre, würden ihn die Anklagen seiner Frau treffen. Er war zu lange abwesend gewesen, er hatte keine Verantwortung übernommen. Oder war etwas mit ihr geschehen? Hatte eine Infektion sie befallen? Er hatte keine Ahnung, saß nur in der Droschke und zitterte.
Ludwig Tacker, dachte er plötzlich. Hat er begriffen, daß ich es war, der ihn angegriffen hat? Hat er es ihr erzählt?
Als er zum Krankenhaus kam, mußte er zuerst eine Toilette aufsuchen. Dann klopfte er beim Oberarzt, hörte ein kraftvolles »Herein« und trat ein.
Doktor Edman war groß und kahl. Er deutete auf einen Stuhl. »Sie scheinen große Angst zu haben.«
»Es hat mich natürlich sehr beunruhigt, daß ich hergerufen wurde.«
»Alle fürchten immer das Schlimmste, wenn sie ins Krankenhaus bestellt werden. Ich habe versucht, das Personal dazu zu bringen, am Telephon nicht so schrecklich dramatisch zu klingen. Aber Krankenhäuser sind erschreckend, ob man will oder
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