Tiefer - Im Sog der Lust (German Edition)
Mädchen?“
„Das Mädchen kannte ich nicht“, sagte Alicia, „aber der Junge hieß Nick.“
Bess stieß den angehaltenen Atem aus. „Was würde einen Geist zurückbringen?“
Alicias Lachen verebbte. Zurück blieb ein leises Lächeln. „Starke Gefühle vielleicht.“
„Wie Liebe?“
„Ja. Oder Wut oder Hass. Aber auch Liebe.“
Bess schaute wieder auf die glatten, samtigen Steine. „Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“
„Ja“, antwortete Alicia. „Und du?“
„Früher nicht.“ Bess schaute auf. „Ich meine, ich war mir nicht sicher. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Ich war nicht sicher, ob ich an Gott glaubte.“
„Und jetzt?“ Alicia brach einen Zweig Rosmarin von der hinter ihr stehenden Pflanze ab, und der frische, kräftige Duft wehte durch den Laden. Sie reichte Bess den Zweig.
Bess ließ die weichen Nadeln durch ihre Finger gleiten und hielt sie dann an ihre Nase. „Ich bin mir immer noch nicht sicher. Aber wenn es ein Leben nach dem Tod gibt … wäre das für einen Geist nicht besser, als hier gefangen zu sein?“
„Ich weiß, dass einige Leute die Geister, die nach ihrem Tod auf der Erde bleiben, als Gefangene bezeichnen“, sagte Alicia. „Aber aus welchen Gründen auch immer, entscheiden sich einige von ihnen trotzdem zu bleiben. Ich bin nicht sonderlich bewandert in Exorzismen oder Reinigungsritualen, aber ich kenne Leute, die seit Jahren problemlos mit Geistern zusammenleben. Meine Nachbarin schwört, dass sie einen Geist in ihrer Wohnung hat, aber er macht nichts, außer die Kissen auf ihrem Sofa neu anzuordnen.“
Bess lächelte dünn. „Das ist nicht wirklich das, was ich meinte.“
„Lass mich dir die Runen lesen.“ Alicia kam einen Schritt auf sie zu. „Komm. Ich zieh drei Runen. Ein Quickie.“
„Oh, ich weiß nicht …“
„Ich werde dir nicht die Zukunft vorhersagen“, sagte Alicia sanft. „Normalerweise erfährst du in den Sitzungen nichts, was du nicht sowieso schon wusstest. Aber es kann helfen, Klarheit über gewisse Dinge zu erlangen. Alles wieder in die richtige Perspektive zu rücken.“
„Ich schätze, das könnte ich gut gebrauchen.“ Bess lachte und folgte Alicia in den anderen Raum, wo diese auf einen Tisch mit zwei Stühlen zeigte. Dann hob sie einen Samtbeutel an, dessen Inhalt leise klackte, als sie ihn schüttelte. „Wähle drei aus und lege sie mit dem Gesicht nach oben auf den Tisch.“
Bess tat wie geheißen.
„Das hier ist Nied. Er repräsentiert die Vergangenheit“, erklärte Alicia und zeigte auf den ersten Stein. „Aber er liegt verkehrt herum, was bedeutet, dass du einen Fehler gemacht hast. Aber die nächste Rune ist Dagaz, der mir zeigt, dass du dich mit den Ergebnissen deiner Entscheidungen aus der Vergangenheit auseinandersetzt. Einige dieser Entscheidungen waren gut, einige waren schlecht, aber du bist dabei, sie alle loszulassen. Du wächst. Die Entscheidungen, die du getroffen hast, fügen sich zusammen und ergeben ein Ganzes. Sogar das Negative hat sich zu etwas Positivem in der Gegenwart entwickelt. Und dieser letzte Stein hier ist die Zukunft …“ Alicias stimme verebbte. Eindringlich betrachtete sie die Runen, dann sah sie Bess an. „Das hier ist Uruz, und er ist aufrecht. Das kann Stärke bedeuten. Soweit ich es verstehe, musst du noch eine Entscheidung treffen, eine von der du nicht sicher bist, ob sie ein Fehler wäre oder nicht. Du bist unsicher, aber am Ende wirst du siegen. Du hast die Kraft, das Richtige zu tun.“
Bess biss sich auf die Lippe und konnte eine ganze Minute nicht antworten. Dann nickte sie. Mit einem Lächeln schaute sie Alicia an. „Danke. Das hat mir sehr geholfen.“
„Das hoffe ich“, erwiderte Alicia. „Du kannst gerne noch mal wiederkommen, dann machen wir eine ausführlichere Deutung, wenn du magst.“
Bess nickte. „Danke, vielleicht komme ich darauf zurück.“
Aber als sie mit einem letzten Winken den Laden verließ, wusste sie, dass sie das nicht brauchte. Sie fuhr nach Hause. Alicia hatte recht. Sie benötigte keine Runen, um zu wissen, was sie zu tun hatte.
Ihr fröhliches Hallo konnte die Dunkelheit und Stille im Strandhaus nicht vertreiben. Auf der Veranda brannte eine kleine Kerze. Schemenhaft konnte sie Nicks Umriss in einem der Stühle erkennen. Der Wind ließ die Flamme flackern, aber blies sie nicht aus.
Bess trat durch die Schiebetür auf das Deck, stellte sich hinter seinen Stuhl und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. Ihr Kinn passte
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