Tiefes Land
plötzlichen Aufbruch Willems, mit dem der Agent sie mal wieder völlig im Dunkeln stehen ließ. Trotzdem, beleidigt wie ein kleines Mädchen, dem man den Lolli geklaut hat, im Hotelzimmer zurückbleiben, kam überhaupt nicht nicht in Frage. Das käme einer Kapitulation gleich, die sie ihrem neuen Vorgesetzten keinesfalls gönnte. Sie sprang ebenfalls auf, hastete zur Tür und stürmte auf den Flur hinaus. Doch von Willem war bereits weit und breit nichts mehr zu sehen.
06:21 Uhr, 5. Mai, Innenstadt, Amsterdam
Nach einer zu kurzen Nacht, in der sich Willem nur drei Stunden Schlaf gegönnt hatte, fuhr er zusammen mit Tessa Boyens zum AMC. Die Agentin hatte Willem zur Rede gestellt, als er sie an ihrem Hotelzimmer abholte, er blieb jedoch zu ihrem Missfallen wie gewohnt schweigsam und vertröstete sie auf später.
Willem wollte erst noch einmal mit Dr. Havell und dem verletzten Zeugen Peer de Hag sprechen, in der Hoffnung, dass sich dieser an zusätzliche Einzelheiten erinnerte. Entgegen ihrer sonstigen Art nahm Tessa die erneute Geheimniskrämerei ein weiteres Mal hin. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Disput. Zudem hatte sie sich fest vorgenommen, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Auf keinen Fall bis zum Abschluss der Ermittlungen. Sie würde mit Van den Dragt reden, so schnell als möglich, und je nachdem, wie sich das Gespräch entwickelte, auch mit Aloster, ihrem gemeinsamen Vorgesetzten. Womöglich ließ sich dann die Frage der Einsatzleitung, die eigentlich ihr zugestanden hatte, noch einmal zu ihren Gunsten überdenken.
Dr. Havell, den sie in seinem Büro antrafen, hatte tatsächlich neue Informationen für den Agenten.
»Es hat ein wenig länger gedauert, als ich dachte«, entschuldigte sich Dr. Havell. »Das Labor hatte erhebliche Schwierigkeiten, die Stoffe im Blut des Patienten zu analysieren. Bei einigen ist es gelungen, bei anderen nicht.«
»Was heißt das im Klartext?«
»Wir wissen immer noch nicht, was man ihm verabreicht hat. Aber es hängt offensichtlich mit seiner verlängerten Bewusstlosigkeit zusammen.«
»Jemand hat es bewusst darauf angelegt, dass Peer de Hag nicht so schnell aufwacht? Aha. So seltsam, wie es klingt, macht das trotzdem einen Sinn für mich. Vielen Dank, Doktor.«
»Keine Ursache. Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Tessa Boyens hatte das Gespräch schweigend und mit kühler Miene verfolgt und nicht ein einziges Mal unterbrochen, obwohl sie alles andere als amüsiert über die Situation zu sein schien. Kaum hatten sie das Büro des Arztes verlassen, konnte sie die drängende Frage nicht mehr zurückhalten.
»Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu verraten, was Sie vorhin meinten? Welchen Sinn macht es, dass man den Zeugen, der doch die Täter im Zweifel sogar identifizieren könnte, nicht nur am Leben lässt, sondern ihn darüber hinaus auch noch mit Drogen vollpumpt?«
Willem lächelte geheimnisvoll. Für einen Moment war er tatsächlich versucht, seine Vermutungen preiszugeben, aber dann entschied er sich dagegen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die ihre Ideen hinausposaunten, bevor sie nicht wenigstens ansatzweise Hand und Fuß hatten.
Darüber hinaus musste er zugeben, dass es ihm sogar ein wenig Spaß bereitete, die Agentin zappeln zu lassen.
»Offensichtlich erst einmal keinen. Da gebe ich Ihnen unvoreingenommen recht. Aber genau das ist es wohl, was es bewirken soll. Irgendwer scheint ein äußerst diffiziles Tänzchen mit uns zu vollführen und wir lassen uns gehorsam bei jedem einzelnen Schritt in die richtige Richtung lenken. Wie es sich für einen guten Tanzpartner gehört. Nun gilt es, den passenden Zeitpunkt herauszufinden, in welchem wir den Takt ändern müssen. Und dafür sind wir hier.«
Tessa schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich habe kein Wort von dem begriffen, was Sie gerade gesagt haben. Könnten Sie mir das bitte in verständlichen Sätzen erklären?«
»Später, Tessa, später. Jetzt müssen wir erst einmal einen Krankenbesuch machen.«
Sie folgten dem Flur und betraten den Aufzug, der sie in den dritten Stock fuhr, dorthin, wo das Krankenzimmer von Peer de Hag lag. Vor der Tür saß Agent Roek auf einem Stuhl, in der Hand ein Magazin über Rennwagen. Er sah auf, als Willem und Tessa an ihn herantraten.
»Agent Van den Dragt. Tessa. Alles ruhig bei unserem Knaben. Keine Besuche, keine Auffälligkeiten. Schläft stundenlang wie ein Baby und ist auch sonst ein äußerst stiller
Weitere Kostenlose Bücher