Tiefschlag
Geordies Chef, über all diese Leute und Bekannten, die ihr Leben bevölkerten. Sie konnte auch über Unmengen anderer Leute nachdenken, Leute aus ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart. Und unter dem Strich standen dann mehr oder weniger interessante oder langweilige Menschen. Aber Geordie war anders. Er vermittelte ihr dieses angenehme Gefühl. Wenn sie an ihn dachte, wollte sie sich am liebsten an ihn kuscheln oder mit ihm irgendeinen Berg besteigen oder mit ihm tanzen. Vielleicht wollte sie auch ganz einfach gar nichts mit ihm machen. Was immer sie auch mit ihm machte, es änderte nichts. Allein bei dem Gedanken an ihn wurde ihr warm. Sie mochte seine Haare, wie es wuchs, seine Augen, ihre Form und Farbe. Sie mochte den Klang seiner Stimme und seinen albernen Gang.
Die letzte Sache, die ihn so attraktiv machte und wodurch er aufregender war als andere Männer, die sie gekannt hatte, war die Tatsache, daß er denken konnte. Janet hatte viele Leute kennengelernt, die meinten, sie würden denken, wo sie doch eigentlich nur ihre Vorurteile und vorgefaßten Meinungen umschaufelten. Geordie jedoch war nicht so. Er war ganz und gar nicht so.
Er würde nie reich werden. Janet könnt die Zukunft nicht vorhersagen, sie war keine Wahrsagerin oder so. Sie war kein Prophet. Selbst wenn ihr Leben davon abhing, könnte sie einem nicht mit Gewißheit sagen, was der Morgen bringen würde. Aber eines lag einfach glasklar auf der Hand.
Geordie würde nie reich sein.
Für Sam folgte ein verlorener Tag. Einer dieser Tage, an denen das Telefon nicht klingelt, und wenn’s doch klingelt, geht man nicht ran, oder vielleicht hebt man den Hörer ab, und zehn Minuten später kann man sich vielleicht schon nicht mehr erinnern, wer angerufen hat. Eben einer dieser Tage. Ein fahler Frühlingstag im Norden. Wenn man die Augen aufmachte und nichts im Wege stand, könnte man meilenweit sehen. Aber man dachte nicht mal im Traum daran, weil man nämlich seinen Blick nach innen gerichtet hatte, oder zurück, und nur ab und an erlaubt man sich mal einen Blick nach vorn. Allerdings nicht zu weit. Höchstens bis zum kommenden Abend, an dem man die Frau von Scottish Widows abholen ging.
Ein Tag, der sich bis in alle Ewigkeit hinzog, schien überhaupt keine Lust zu haben, auch mal zu Ende zu gehen.
Und dennoch ein mit Arbeit ausgefüllter Tag. Er veranlaßte, daß Marie mit jedem im Brownie Dyke-Viertel redete, wo der junge Andrew Bridge aus dem Fluß gefischt worden war. Geordie konzentrierte sich auf das Micklegate-Viertel. Sie brauchten nur einen einzigen Zeugen, der etwas gesehen hatte. Schon richtig, daß die Polizei vor ihnen bereits genau das gleiche Feld beackert hatte, aber die Erfahrung der Vergangenheit lehrte, daß es nicht immer der erste am Tatort war, der die richtige Antwort fand. Oft genug erinnerten sich die Leute erst später an etwas, nachdem ihr Unterbewußtsein Zeit gehabt hatte, sich ausgiebig mit der Frage zu beschäftigen.
Bei der Autopsie von Andrew Bridge waren Kokainspuren und Verbrennungen in der Nase festgestellt worden. Außerdem Reste von Anabolika. Er war noch nicht lange User, aber es sah ganz danach aus, als hätte er in den Wochen vor seinem Tod eine Menge Drogen genommen. Noch überraschender war, daß Andrew bereits einige Zeit tot gewesen war, bevor er kastriert wurde. Es fanden sich keinerlei Anzeichen von Blutungen an der Amputationswunde. Nach dem Tod war Andrew zunächst auf dem Rücken liegengelassen worden, und das Blut hatte sich im Rückenbereich und auf der Rückseite der Beine gesammelt. Wäre er kastriert worden, als er noch lebte, hätte die Wunde stark geblutet. Was aber nicht der Fall war. Als Andrews Genitalien entfernt wurden, war er bereits einige Zeit tot.
Zunächst vermutete die Polizei, daß der Mord im Zusammenhang mit irgendeinem Sektenritual stand, vielleicht sogar mit Schwarzer Magie. Diese Vermutungen basierten jedoch auf der Annahme, daß Andrew bei lebendigem Leib entmannt worden war.
Jetzt wußte man nicht mehr, was man denken sollte. Was Sam ein Lächeln entlockte, denn wann hatte die Polizei schon mal gewußt, was sie denken sollte? Meistens wußten die ja nicht einmal, wie man so was überhaupt machte. Denken.
Für diesen einen Tag überließ Sam die Nachforschungen über Andrew Bridge ganz Marie und Geordie. Er graste die Gegend um Jeanie Scotts Haus ab und unterhielt sich mit ihren Nachbarn. Sprach genaugenommen mit jedem in ihrer Straße. Versuchte sich ein Bild zu
Weitere Kostenlose Bücher