Tiere
ich eben nicht auf sie.» Als ich ihr das auch sagte, rastete sie völlig aus. So hatte ich sie noch nie erlebt. Sie begann zu fluchen und mich zu beschimpfen, und die Frau von der Heilsarmee sagte: «Ich denke, es ist besser, wenn du uns eine Weile mit ihr allein lässt.»
Ich ging ins Wohnzimmer und guckte
Coronation Street
. Ich fühlte mich total schlecht, weil ich sie wütend gemacht hatte. Der Arzt hatte Schuld, denn wenn er mir nicht gesagt hätte, dass ich nicht auf sie achten soll, hätte ich es ihr auch nicht gesagt. Ich konnte sie immer noch schimpfen hören, doch als die Werbepause begann, war sie wieder ruhig geworden. Dann flog plötzlich die Tür auf, und der Mann von der Heilsarmee stürzte rein und rief: «Schnell, ruf einen Krankenwagen!»
Ich war zu überrascht, um etwas zu tun, und fragte: «Was?» Er war sehr aufgeregt und meinte: «Deine Mama ist krank.» Das wusste ich ja schon, schließlich lag sie deshalbim Bett. Ich starrte ihn nur an. «Wo ist das Telefon?», rief er, zuletzt sogar bissig.
Er war noch nie im Wohnzimmer gewesen, und in seiner Uniform wirkte er riesig. Er passte irgendwie nicht zwischen den Fernseher und das Sofa und die Anrichte. Da das Telefon genau hinter ihm stand, zeigte ich bloß darauf, und er packte den Hörer, wählte und bat schnellstens um einen Krankenwagen. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und lief wieder raus.
Ich wusste nicht, ob ich ihm folgen soll oder nicht. Ich war total durcheinander, aber da ging auf einmal
Coronation Street
weiter, und obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, guckte ich wieder hin. Irgendwann klopfte es an der Haustür. Ich wollte aufmachen, doch der Mann von der Heilsarmee war schon auf der Treppe und lief nach unten.
Ich fand es ein bisschen frech, denn es war ja nicht sein Haus. Aber kaum war er unten, lief er auch schon wieder hoch, gefolgt von zwei Sanitätern mit einem Rollstuhl.
Sie beachteten mich nicht und gingen schnurstracks in das Zimmer meiner Mama. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ihr der ganze Ärger nicht gefallen wird, und wie ich hoffte, dass die Schuhe der Männer nicht schmutzig sind, weil ich sonst hinterher alles sauber machen muss. Von oben hörte ich Lärm und Aufruhr, aber ich konnte nichts sehen, weil die Tür zugefallen war. Dann ging sie wieder auf, und die Männer kamen mit dem Rollstuhl raus, in dem jetzt jemand saß.
Zuerst dachte ich, es wäre die Frau von der Heilsarmee. Aber dann sah ich sie mit dem Mann aus dem Zimmer kommen. Die beiden wirkten total bedrückt, und als ich zur Seite ging, um die Sanitäter vorbeizulassen, sah ich, dass meineMama im Rollstuhl saß. Sie hatten eine rote Decke um sie gelegt. Meine Mama war ganz weiß. Ihre Augen waren halb geschlossen, und sie hatte ihr Gesicht gerunzelt, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern. Sie sah ganz fremd aus. Ich wusste natürlich, dass es meine Mama ist, aber es sah ihr gar nicht ähnlich, in einem Rollstuhl geschoben zu werden.
Der Mann und die Frau von der Heilsarmee blieben vor mir stehen, und ich fragte: «Was ist los? Stimmt etwas nicht?» Der Mann wollte etwas sagen, doch die Frau warf ihm einen Blick zu und sagte: «Sie hatte einen Anfall und wird jetzt ins Krankenhaus gebracht. Du kannst bei uns im Wagen mitfahren.»
Danach waren die beiden echt nett zu mir. Im Krankenhaus und bei der Beerdigung und so weiter. Sie kamen und erledigten den ganzen Papierkram. Trotzdem war ich froh, als sie irgendwann nicht mehr vorbeischauten. Ihre Besuche erinnerten mich nur an das, was geschehen war, und machten mich traurig. So ist das mit der Heilsarmee. Durch sie denkt man an Sachen, an die man nicht denken will.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin in einem Traum. Als wäre ich nicht wirklich da. Ich habe keine Ahnung, wo ich sein soll oder wer ich wirklich bin oder so. Alles scheint falsch zu sein. Ich habe das Gefühl, ich kann es keine Sekunde länger ertragen. Aber dann geht es vorbei. Wie jetzt. Dort unten im Keller kam es mir wirklicher vor als oben, wo die Sonne grell reinschien und alles staubig war. Der Keller roch total erdig, und das Bierfass fühlte sich kalt und hart an meiner Wange an. Nach einer Weile trat ich einen Schritt zurück.
Aber ich war noch nicht so weit, wieder nach oben zugehen. Ich nahm einen Stuhl vom Stapel an der Wand und setzte mich hin. Jetzt berührte ich das Fass nicht mehr, aber ich war noch nah genug, um es zu spüren, wenn ich wollte. Normalerweise sehe ich den Keller nur,
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