Tiffany Lieben & Lachen Band 0010
Moment lang fragte sie sich, ob er ihre Gedanken lesen könne. Aber das war lächerlich. Männer konnten keine Gedanken lesen, das wusste sie aus Erfahrung. Sie lächelte freundlich und winkte vorsichtig. Sam nickte kurz und wandte den Blick wieder ab.
Vielleicht mochte er es nicht, dass sie mitten in seinem Büro stand, mit nassem Haar und im Morgenmantel. Tja, sein Pech. Sie hatte nicht darum gebeten, in diesem Luxushotel einquartiert zu werden.
“Sie müssen die Kleine sein, die in dem Mordfall drüben im ‘Climbing Bear Resort’ verwickelt ist”, hörte sie jemanden sagen.
Haley Jo drehte sich um. Eine uralte Frau mit eisengrauem Haar stand im Seiteneingang und hielt die Tür auf. “Hallo”, sagte Haley Jo und hielt sich das Handtuch vor den Ausschnitt.
“Jetzt brauchen Sie nicht mehr schamhaft zu werden, Mädchen. Sie stehen seit fünf Minuten vor dem Fenster. Die ganze Stadt hat Sie inzwischen besichtigt.” Sie setzte eine dreibeinige Krücke auf die Stufe vor der Tür, griff mit einer winzigen, verknöcherten Hand nach dem Türrahmen und zog sich stöhnend hoch.
“Ich sollte Sam den Hintern versohlen. Wie oft hab ich ihm schon gesagt, er soll noch eine Stufe machen lassen, damit es leichter für mich wird. Und tut er es?” Sie sah Haley Jo durch ihre dicken Brillengläser hindurch scharf an. “Natürlich nicht. Der rücksichtslose kleine Bengel.”
Haley Jo musste erst einmal schlucken. Was sollte sie darauf antworten? Und wie war das möglich, dass jemand wagte, den hochgewachsenen Polizeichef als klein zu bezeichnen? Sie entschied sich für das Sicherste: nicken und höflich lächeln.
Die Frau stützte sich schwer auf ihre Krücke, als sie sich langsam zu dem Schreibtisch, der dem Tresen am nächsten stand, bewegte und sich auf den Stuhl mit dem dicken Kissen fallen ließ. “Ich bin Eleanor Seals.”
“Haley Jo Simpson, Ma’am.” Haley Jo trat auf sie zu und streckte die Hand aus.
Mrs Seals winkte ab. “Kein Händeschütteln für mich, Kleine. Ich habe Arthritis, und solange mich die Ärzte in Ruhe lassen, sehe ich zu, dass mir nichts und niemand zu nahe kommt.” Sie wies mit dem Kopf auf die Schreibtischplatte. “Und das gilt auch für diese verdammte Computertastatur. Falls es Sie interessiert, das ärgert den Chief unheimlich.”
Die alte Frau lachte; es klang, als würde Papier zerknüllt. Stöhnend versuchte sie, ihre Sitzposition zu verändern. “Ich schätze, der Mann wird sehr froh sein, wenn ich endlich in Rente gehe. Er glaubt, dann kann er endlich eine ‘richtige’ Sekretärin einstellen. Eine, die sich mit all dem neumodischen Zeugs auskennt.”
Haley Jo sah sich ratlos um. Neumodisches Zeugs? Sie sah nichts, das diese Bezeichnung verdient hätte. Es gab einen Gateway-Computer, ein Faxgerät und einen ziemlich abgenutzten Kopierer, weiter nichts. Doch die Art, wie Mrs Seals sie ansah, sagte Haley Jo, dass die Frau keinen Widerspruch hören wollte.
“Nun, wollen Sie hier den ganzen Tag halb nackt herumstehen oder haben Sie vor, sich irgendwann etwas Anständiges anzuziehen?”
Haley Jo zuckte zusammen. “Oh, tut mir leid, Ma’am. Ich war gerade auf dem Weg.”
Sie blickte noch einmal durchs Fenster. Andys Wagen setzte sich gerade in Bewegung, und Sam ging über die Straße zur Bibliothek. Offenbar hatte er keine Vorbehalte, sie der Obhut dieses alten Drachens zu überlassen. Das passte zu ihm. So, wie er sie gestern Abend allein gelassen hatte, nachdem er sie erst ganz heiß gemacht hatte …
Seufzend tat Haley Jo das einzig Mögliche: Sie ging zurück in ihre Zelle.
Etwa zwanzig Minuten später – Haley Jo hatte gerade begonnen, ihr neues Zuhause zu dekorieren – hörte sie, wie Eleanor Seals mit ihrem Stock durch den Flur stapfte, offenbar, um sie zu besuchen.
Rasch schob Haley Jo das Bett auf die andere Seite und verzog das Gesicht, als die Metallfüße quietschend protestierten.
“Du lieber Himmel, Sie machen aber einen Lärm. Was haben Sie vor?”, fragte Mrs Seals.
“Oh, nichts weiter.” Haley Jo richtete sich auf. Hoffentlich würde Mrs Seals nicht zu oft hierherkommen. Vielleicht würde sie gar nichts bemerken.
“Klingt aber nicht so, wenn Sie mich fragen.” Die alte Frau sah sich in der Zelle um. Natürlich bemerkte sie alles sofort: den Fransenschal, mit dem Haley Jo das vergitterte Fenster zugehängt hatte, und den bunten Sarong, den sie als Tagesdecke über das Bett gebreitet hatte.
“Oh, sieht hübsch aus.” Ein unerwartet
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