Tiffany
eine halbe Stunde auf kleiner Hitze weitergaren, dann ist es fertig.«
Ich lupfte den gusseisernen Deckel. »Was wird denn das?«
»Lammfleischeintopf.«
»Pot-au-feu«, antwortete Tiffany im gleichen Atemzug. »Genug für drei Tage. Wir rechnen damit, dass der Polder überflutet wird, aber uns kann nichts passieren.«
Die Keereweer warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu und nahm ihre Tasche, die unter ihrem Mantel auf einem Stuhl lag. Sie holte eine kleine Medikamentenschachtel heraus und gab sie Tiffany. »Halte dich an das, was wir besprochen haben«, sagte sie. »Mehr brauchst du nicht.«
Schweigend steckte Tiffany die Schachtel in die Hosentasche.
»Ich bringe dich noch raus«, sagte ich, als die Keereweer nach ihrem Mantel griff. Ich ging zur Tür und hielt sie ihr auf.
»Und, wird jetzt noch ein bisschen über die Patientin geredet?«, fragte Tiffany spöttisch.
Ich drehte mich um. »Du bist keine Patientin. Du bist mein Gast.«
Sie überlegte keine Sekunde. »Wird noch ein bisschen über den Gast geredet?«
»Das muss schon sein, solange du mir nichts erzählst.« Ich grinste bissig und folgte der Keereweer durch das Atelier und die Tenne nach draußen. Dicke Wolken hingen tief am Himmel, wodurch es schon abendlich aussah, obwohl wir es erst halb sechs hatten. Ein Traktor kroch wie ein Urzeitmonster durch eine Reihe niedriger, vom Nebel halb verschluckter Apfelbäume.
Nina Keereweer erschauerte. Ich nahm ihr den stahlblauen, verschlissenen Regenmantel ab und hielt ihn höflich für sie hoch.
»Dein Gast ist in erster Linie mit sich selbst im Unreinen«, sagte sie, während sie in die Ärmel fuhr. »Sie ist kein Junkie, und im Moment habe ich den Eindruck, als müsste ihr mal kräftig der Hintern versohlt werden.«
»Ich dachte, dir wäre eher an der Ursachenforschung gelegen?«
»Stimmt schon. Ich drücke mich nur falsch aus. Sie hat ein schweres Trauma erlitten, aber das liegt unzugänglich in ihr verborgen und erfordert eine langfristige Behandlung. Vor kurzem hat sie aber noch eine andere Art von Schock erlitten und steckt jetzt voller ungerichteter Wut.«
»Ich weiß nicht so recht, wovon du redest.«
Die Keereweer nickte verbissen. »Das liegt daran, dass es normalerweise nicht meine Aufgabe ist, so etwas zu erklären. Ich glaube, es geht hier um zweierlei. Erstens um dieses schwere Trauma, dass infolge eines früheren Schocks entstanden ist, irgendeines tragischen Erlebnisses. Meiner Meinung nach könnte ihr jeder Psychiater schon von weitem ansehen, dass sie einen Schuldkomplex mit sich herumträgt. Das Heroin hilft ihr dabei, zu vergessen und sich selbst auszublenden. Vielleicht versucht sie sogar, sich mit den Drogen umzubringen und spielt die Hure, weil sie sich selbst hasst und sich auf diese Weise bestrafen will, aber das ist reine Spekulation, dazu müsste man bei Dostojewski nachlesen oder bei Freud. Was ich meine, ist, dass sie von einem Selbstzerstörungstrieb besessen ist, aber das Positive und zugleich Frustrierende für Tiffany liegt darin, dass sie diesem Drang nie vollständig nachgeben kann, auch wenn sie es noch so sehr versucht. Ob ihr Charakter, etwas in ihren ererbten Eigenschaften, ein gewisses Normbewusstsein oder ihre Erziehung: Irgendetwas hindert sie daran, den letzten Schritt zu tun. Andere Mädchen steigen gedankenlos auf Crack um und gehen innerhalb kürzester Zeit daran zu Grunde. Ich glaube, dass Tiffany sich schon seit mindestens einem Jahr auf einem Schuss pro Tag hält. Soweit ich weiß, ist das ein Kraftakt. Es ist, als hielte sie sich auf einem bestimmten Niveau, um jederzeit davon loskommen zu können, so als warte sie förmlich darauf. Vielleicht tut sie das nur unterbewusst, aber jedenfalls hat sie sich unter Kontrolle.«
»Davon habe ich aber nichts bemerkt, als ich sie in diesem besetzten Haus gefunden habe«, bemerkte ich.
»Stimmt schon.« Nina Keereweer umklammerte den Griff ihrer Tasche und schaute hinüber zu dem Traktor, der den Rand der Obstplantage erreicht hatte und jetzt mit orangefarben blinkenden Rücklichtern am Rande des Wassergrabens unter den Weiden aus unserem Blickfeld verschwand. »Es wird Regen geben«, murmelte sie und sagte dann: »Das zweite Problem ist der Schock, den sie erlitten hat, weil eine ihrer Freundinnen ermordet wor den ist. Tiffany hat sich eine Überdosis gespritzt, weil sie sich schuldig fühlte und die ganze Situation einfach nicht ertragen konnte. Das hat sie inzwischen überstanden. Jetzt ist sie nur noch
Weitere Kostenlose Bücher