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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Seine schlanken Finger wirkten schwielig und rau, und die Muskeln auf seinen langen Armen traten wie Stränge hervor. Dela war klar, dass er genug Kraft besaß, mit bloßen Händen töten zu können. Sie fühlte die Wärme seines nackten Oberkörpers auf ihren bloßen Schultern, und das Blut strömte in ihre Wangen.
    »Warum tust du das?«, fragte Hari. Dela fuhr zusammen. Seine Stimme hatte sie erschreckt. Sie klang hart und gleichzeitig sanft, und in der Stille des Zimmers sehr laut. Er sah sie an, als wäre sie ihm ein Rätsel - und genauso fühlte sich Dela.
    »War denn nie jemand nett zu dir, auch ohne einen Grund dafür zu haben?«
    Hari wollte etwas erwidern, zögerte jedoch. »Nein«, gab er schließlich zu. »Schon sehr lange nicht mehr.«
    »Das tut mir leid.« Nach einer Weile fuhr sie sehr leise fort: »Warum bist du eingekerkert worden?«
    Hari zog seine Hand zurück. »Ich habe kein Verbrechen begangen.«
    Dela verdrehte die Augen. »Nicht alles, was ich sage, meine ich als Beleidigung, okay?«
    Hari betrachtete seine Hände und ballte sie so fest zu Fäusten, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Das ist eine alte Geschichte«, sagte er. »Ich habe sie immer wieder erlebt, in verschiedenen Epochen, bei anderen Menschen. Es fängt meist mit einer Frau an. Bei mir war es meine Schwester. Ein mächtiger Magier wollte ein Kind von ihr, doch sie war bereits schwanger. Als der Magier das herausfand, drohte er, sie umzubringen. Ich kam hinzu, bevor er seine Drohung wahrmachen konnte. Wir trafen eine Abmachung. Ich würde in seine Dienste treten, wenn er sie und das Kind verschonte. Der Magier willigte ein, tötete sie jedoch trotzdem. Als ich mich rächen wollte, überwältigte er mich, brannte seinen Fluch in meine Brust ein und verbannte mich in die Schatulle. Seitdem diene ich als Sklave.«
    In Haris Augen zeigte sich unverhüllte Trauer. Der Anblick schockierte Dela, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Seine Geschichte klang zu schrecklich, zu seltsam. Hari wandte sich von ihr ab. Seine Miene war so finster wie der Tod. Er zog sich an, legte seine Waffen an. Dann ging er durch das Zimmer und untersuchte alle Gegenstände. Er beobachtete und lernte.
    Irgendwie wirkte er zwischen den dunklen Standardmöbeln von Delas Hotelzimmer vollkommen fehl am Platz. Er gehörte in einen Mythos, als tragischer Held eines exotischen und anrührenden Epos. Er war pure Magie, und dies hier war keine magische Welt.
    Und dann seine geschmeidigen Bewegungen: hinreißend und bedrohlich zugleich. Dela beobachtete ihn und versuchte, die Unmöglichkeit seiner Existenz, seine ganze Geschichte mit dem in Einklang zu bringen, was sie als Wahrheit kannte. Die
    Berührung seiner Seele hallte noch immer in ihrem Inneren nach.
    Akzeptiere es, sagte sie sich. Du musst es nicht glauben. Akzeptiere es einfach.
    Wirklicher Glaube hätte von Herzen kommen müssen, und das war mehr, als Dela im Augenblick geben konnte. Akzeptanz dagegen war nicht so schwierig. Wie ein großer Fleck auf einer neuen Bluse. Man glaubte einfach nicht, dass es passiert war, aber man hatte den Beweis sichtbar vor Augen. Also akzeptierte man es.
    »Hör auf, mich anzustarren!«, fuhr Hari sie an und drehte sich zu ihr herum.
    »Ich denke nach«, antwortete sie sanftmütig. »Das alles ist ziemlich merkwürdig.«
    »Du wirkst aber nicht sonderlich aufgewühlt.«
    »Wäre es dir lieber, wenn ich hysterisch wäre?«
    »Ich würde ein klares Ziel bevorzugen«, erwiderte er und zögerte. »Mache ich dir keine Angst?«
    Dela lächelte. »Was willst du, Hari?«
    Er hob eine Braue. »Als man mir das letzte Mal diese Frage stellte und ich ehrlich antwortete, hat mir mein Meister die Haut in Streifen vom Rücken gerissen.«
    Dela schluckte und ließ sich auf das Bett zurücksinken. »Was hast du geantwortet?«
    »Dass ich ihn gern eingraben und zusehen würde, wie sein Kopf von wilden Hunden gefressen würde.«
    Es war nicht komisch, ganz und gar nicht, aber Dela musste trotzdem laut lachen. Besser als wenn ihr schlecht wurde. Ihr fiel ein, wie Hari zuvor auf ihr Lachen reagiert hatte, aber diesmal schien er nicht wütend zu sein. Nur verblüfft. Und dann lächelte er fast unmerklich.
    »Es war keine sehr kluge Antwort«, gab er zu. »Aber das kümmerte mich nicht.« Sein Lächeln erlosch. »Mein Meister starb ein Jahr später. Die Zeit bis dahin war... unerfreulich.«
    Dela seufzte. »Hast du jemals versucht zu fliehen?«
    »Wenn ich von meinem Meister getrennt

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