Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
dem Wunsch, einen Blick auf die Welt da draußen zu werfen, die ihm eine zeitweilige Flucht aus diesem eingebildeten Käfig versprach. Während seines Streits mit der Frau hatte er etwas hinter dem Glas bemerkt, eine merkwürdige Vision, die bestimmt seiner Phantasie...
    Nein. Hari suchte zitternd Halt an der Wand, als seine Beine plötzlich weich wurden.
    Es war wie damals, als er zum ersten Mal Rom sah... eine glühend weiße Hitze, in der es von Menschen wimmelte. Die Stadt kauerte wie ein scharfer, wundervoller Albtraum auf ihren Hacken. Nichts hatte Hari auf Rom vorbereitet, und seitdem hatte ihn nichts für das gewappnet, was er jetzt sah.
    Eine ungeheure Stadt breitete sich vor ihm aus, eine Ansammlung aus gewaltigen Monolithen, mit Stahl und Glas verkleidet, die sich in seinen Blick brannten. Weiter... Hari richtete den Blick zum Horizont, doch der Anblick veränderte sich nicht. Überall standen Gebäude, die unmöglich so hoch sein konnten. Kalt, hart und abweisend. Unter sich sah er bunte Dinge, die sich über verstopfte Pfade bewegten, er sah ein Gewühl von Menschen, den merkwürdigen Tanz von Fußgängern, aus göttlicher Höhe betrachtet.
    Ein Turm in den Wolken. Ein Weltwunder. Sein nächster Gedanke war: Ich fürchte mich.
    Dabei gab es nur noch sehr wenig, was Hari Angst einflößen konnte. Seine Unschuld war nach diesen zweitausend Jahren längst gestorben. Es gab keine Grausamkeit, kein Wort und keinen Anblick, der ihn noch hätte überraschen können. Es gab einfach nichts.
    Jedenfalls hatte er das geglaubt, bis er auf diese Frau getroffen war.
    Und er hatte es gedacht, bis er diese Stadt sah. Diese offenbar endlose, in Stahl gewappnete Stadt.
    Immer veränderte sich die Welt zwischen den Rufen seiner Herren, das war der Lauf der Dinge. Hari war ein Mann außerhalb der Zeit. Dennoch wurde ihm jetzt klar, dass die Unterschiede, die er erlebt hatte, bisher alle noch irgendwie vertraut gewesen waren. Jetzt jedoch war das Bekannte tot, wirklich verschwunden. Alles zu Staub geworden.
    Nein, verbesserte er sich. Nein. Seit zweitausend Jahren wurde ich in eine Welt gerufen, in der Tod, Seuchen und Grausamkeit herrschten. Ich kann nicht glauben, dass sie sich so stark verändert hat. Vielleicht ist die Oberfläche anders, aber darunter werden sich die Herzen noch immer an Gift berauschen.
    Es war ein merkwürdiger Trost, oberflächlich und bitter.
    Hari riss sich vom Fenster los und trat zu der Tür auf der anderen Seite des Zimmers. Der merkwürdige, mit Stoff bedeckte Boden verschluckte seine Schritte. Er lauschte der Frau auf der anderen Seite der verschlossenen Tür. Wasser spritzte.
    Haris Sinne waren sehr scharf. Auch ohne seine Haut hatte er die Fähigkeiten des Tigers behalten. Er roch die Frau überall, an seinem ganzen Körper. Jasmin, Lavendel, süße, beruhigende Düfte, die so gar nicht zu dem Feuer in ihren Augen passten.
    Hari lächelte grimmig. Es war ein Millennium verstrichen, seit er das letzte Mal auf eine Frau getroffen war, die einen so durchdringenden Blick und eine so scharfe Zunge besessen hatte. Trotz, Mut - sie hatte sich gegen seine Wut behauptet, mit ihrer eigenen, nicht minder starken; und das, ohne ihre Macht über ihn überhaupt zu kennen. Sie sagte, sie könnte die Inschrift auf der Schatulle oder auf seiner Brust nicht entziffern, und er glaubte ihr. Sie roch nicht nach Lügen.
    Das war eine bemerkenswerte, eine erstaunliche Enthüllung. Kriegsherren und Könige, kundig des uralten Wissens über die Schatulle, hatten nicht annähernd so viel gewagt wie diese Frau, jedenfalls nicht ohne einen Befehl auf den Lippen, eine sofortige Versicherung ihrer Macht. Als würde es eine unerträgliche Schwäche offenbaren, wenn sie es täten, eine Schwäche, die Hari ausnutzen könnte.
    Ihm war nach Lachen zumute. So etwas war das Letzte, woran er dachte. Seine einzige Sorge galt dem Versuch, diese Rufe mit gesundem Geist zu überleben, jeden Tag darum zu ringen, nicht zu brechen.
    Hari lauschte noch einen Moment an der Tür, hinter der die Frau verschwunden war, und richtete seinen Blick dann auf die andere Tür im Raum. Ein weiteres Schlafgemach? Er mühte sich mit dem Knopf und den Riegeln ab, bis es ihm endlich gelang, diese Tür zu öffnen. Er erwartete Wachen, andere Menschen, fand sich stattdessen jedoch in einem langen Korridor wieder, von dem andere Türen abgingen, eine nach der anderen. Es war ein leerer, unheimlicher Anblick, der Unbehagen in ihm auslöste.
    Im selben

Weitere Kostenlose Bücher