Tiger Eye
Wangen erhitzte. »Du bist kein Sklave. Du bist ein Mann. Ich werde dich immer wie einen Mann behandeln, mit demselben Respekt und Mitgefühl, das du mir entgegenbringst.«
»Dann werde ich dasselbe auch für dich tun«, erwiderte er.
»Mehr wollte ich nicht hören.«
Er nickte, unfähig ihr zu gestehen, dass dies mehr war, als man ihm jemals angeboten hatte, und weit mehr, als er seit dem Fluch jemandem versprochen hatte. Er streckte seine Hand aus, und ihre Handflächen berührten sich zum zweiten Mal, die warmen Finger legten sich um glatte Haut. Ein merkwürdiges Kribbeln lief über seinen Arm, auf dem die kleinen Härchen zu Berge standen. Ihre Hand war klein und warm, ihr Griff fest. Es fiel Hari schwer, sie wieder loszulassen.
Sie starrten einander an, bis das Schweigen peinlich wurde. Noch nie war Hari Schweigen unangenehm gewesen. Allerdings hatte auch bislang noch niemand von ihm erwartet, dass er etwas sagte.
»Bist du hungrig?« Dela zog die Hand zurück und schob sie rasch in die kleine Tasche ihrer Hose. »Musst du schlafen oder baden?«
Nachdem der Ärger aus ihrem Gesicht verschwunden war, wirkte sie kleiner, verletzlicher. Sogar fast schüchtern. Das löste ein eigenartiges Gefühl in Hari aus, als müsste er sie beschützen, obwohl diese Empfindung so fremd war, dass er sie nur schwer benennen konnte. Ihm wurde warm. Seine früheren Meister hatten ihn das niemals gefragt. Über seine Bedürfnisse nachzudenken war ihnen auch nie in den Sinn gekommen.
»Ja«, antwortete er. »Ich würde gern essen und... mich waschen.« Trotz Delas Versicherung, ihn respektvoll zu behandeln, würde sie ein solches Angebot vielleicht nicht noch einmal machen. Er wäre ein Narr, wenn er sich weigerte. Zumindest setzte sie damit einen Maßstab. Wenn sie ihr Versprechen hielt, würde sie ihn vielleicht nicht wie einen Sklaven behandeln, aber da er nicht in der Lage war, sich weit von ihr zu entfernen, blieb er auf ihren guten Willen angewiesen, was Nahrung und Unterkunft betraf.
Diese seltsame Abhängigkeit hatte ihn schon immer gestört, aber jetzt kam sie ihm besonders falsch vor. Er wusste zwar nicht, was er von dieser Frau wollte, aber Wohltätigkeit war es nicht. Er wollte, dass sie mehr in ihm sah als eine Verpflichtung, mehr als nur einen Sklaven.
Dein Stolz ist zurückgekehrt! Gib acht, dass er dich nicht vernichtet.
Dela trat zu einem Tischchen, von dem sie ein flaches Buch nahm. Sie schlug es auf, wollte es ihm reichen, zögerte dann jedoch. »Du sprichst meine Sprache«, sagte sie vorsichtig. »Kannst du sie auch lesen?«
Hari warf einen Blick auf das Buch in ihrer Hand, auf die merkwürdige Schrift, und schüttelte den Kopf. »Das Verständnis gesprochener Sprache gehörte zu dem Fluch, um meine Meister immer zu verstehen, ganz gleich, in welcher Sprache
sie redeten. Doch damals vermochten nur sehr wenige Menschen zu lesen, so dass es nicht von Bedeutung war. Außer...«
»Außer was?«
»Du hättest die Inschrift auf der Schatulle entziffern müssen«, wiederholte Hari hartnäckig. »Selbst die des Lesens Unkundigen waren in der Lage, seine Bedeutung zu entziffern, und du bist ohne Zweifel gebildet.«
»Für mich sieht es nur wie eine Reihe von Strichen aus. Unverständlichen Strichen.«
»Das ist sehr merkwürdig.«
Dela seufzte. »All das ist sehr merkwürdig, Hari. Wenigstens für mich. Aber kümmern wir uns immer nur um eine Angelegenheit zur gleichen Zeit. Zuerst ums Essen. Ich glaube, mit etwas Komplizierterem komme ich im Augenblick nicht zurecht.«
Ihre Rücksicht flößte Hari Unbehagen ein, aber er sagte Dela, was er wollte: Fleisch, Früchte, Wein. Bei dem Gedanken an Essen überwältigte ihn das beißende Hungergefühl in seinen Eingeweiden beinahe, und er hatte einen trockenen, bitteren Geschmack im Mund.
Dela nahm einen seltsamen Gegenstand von dem Tisch, eine dunkle Muschel, und sprach hinein. Er beobachtete sie aufmerksam, während er sich verbittert bewusst wurde, dass ihn der Ruf diesmal in eine Welt geholt hatte, die ganz anders war als alle, die er bisher gewohnt war. Er musste so viel lernen.
Warum solltest du dir die Mühe machen? Ganz gleich, was diese Frau gelobt hat, du gehörst ihr, gefesselt und angeleint. Wissen ist an dich doch nur verschwendet. Du wirst niemals benutzen können, was du lernst, es wird dir nie erlaubt sein, von ihrer Seite zu weichen.
»Sie sagen, es dauert zwanzig bis dreißig Minuten.« Dela sah ihn an. Hari fragte sich, ob sie die
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