Tiger Eye
schwach sind oder es akzeptieren, kann Max in ihre Köpfe sehen, kann sie manipulieren, Visionen erschaffen oder Überzeugungen stärken.«
»Ich kann mir die Verlockung vorstellen, diese Fähigkeit zu missbrauchen.«
Seine Worte beleidigten Dela nicht. »Es ist eine sehr ernste Sache. Noch bevor sich unsere Macht wirklich zeigte, haben meine Eltern uns dazu erzogen, die Regeln der Intimsphäre strikt zu beachten. Sie haben uns keinen Verstoß durchgehen lassen. Meine Mutter kann Auren lesen, während meine Großmutter eine Wahrsagerin ist... sie blickt manchmal in die Zukunft. Das sind keine besonders aufdringlichen Fähigkeiten, aber weil sich diese Macht von Generation zu Generation zu ändern scheint, wussten meine Eltern, dass auch diese Möglichkeit bestand. Sie wollten sichergehen, dass wir zur Verantwortung erzogen wurden.«
»Kannst du auch Gedanken lesen?«, fragte Hari leise. Seine Stimme verriet keinerlei Furcht. Dela atmete sacht aus und entspannte sich allmählich.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich habe einen guten Instinkt, was Menschen angeht, und manchmal träume ich von der Zukunft, aber mein eigenes Talent bezieht sich auf Metall. Ich weiß nicht, wie oder warum das so ist, aber es... spricht zu mir. Abgesehen davon, dass ich Metall auf ganz subtile Weise bearbeiten kann, spüre ich auch immer seine Komponenten und sein Alter. Ist eine bestimmte Person lange genug damit umgegangen, höre ich auch das Echo dieses Menschen darin, eine Art Abdruck, und ich kann die Geschichte des Metalls erkennen. Wofür es benutzt wurde, wo es gewesen ist. Aber das geschieht nicht sehr oft. Es dauerte eine Zeit, bis sich diese Energien angesammelt haben.«
»Meine Waffen«, meinte Hari nachdenklich. »Sie haben dir eine Geschichte erzählt.«
»Ja.« Ihre Handfläche schmerzte noch immer.
»Was hast du gesehen?«
»Blut«, flüsterte sie. »Tod. Aber das war nur die Klinge selbst. Ich habe auch dich gespürt, und dein Echo war so wütend, so einsam und traurig. Du hast all die Leben so sehr bedauert, die du genommen hast.«
»Ich habe in meinem Leben schreckliche Dinge getan, Delilah. Es stimmt zwar, dass es gegen meinen Willen geschah, aber der Makel ist trotzdem da. Ich habe getötet, endlose Tage - immer wieder. Ich habe in einem Albtraum gelebt.«
»Ich weiß«, sagte sie leise.
»Und dennoch, obwohl du es gesehen hast, wendest du dich nicht von mir ab. Warum?« Seine Stimme klang so schmerzlich, so sehnsüchtig. Wonach er sich sehnte, wusste Dela allerdings nicht. Nach Vergebung? Anerkennung?
Sie drehte sich in seinen Armen herum, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, und legte ihre Handfläche auf seine stoppelige Wange. »In deinem Kern brennt eine reine, helle Flamme, die aus Freundlichkeit besteht. Deshalb kann ich mich nicht abwenden, und deshalb habe ich keine Angst vor dir.«
»Ich fühle mich aber nicht sehr freundlich«, erklärte er.
»Aber du bist es«, gab sie zurück.
Hari küsste ihre Handfläche. »Ich verstehe dich nicht, Delilah.«
Sie lächelte. »Ich bin auch nicht ganz sicher, ob ich dich wirklich verstehe, dabei habe ich den Schatten deiner Seele erblickt. Klingt verrückt, was? Ich nehme an, das wird immer ein Geheimnis bleiben.«
Hari sah nicht so aus, als mache ihm das etwas aus. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Lippen, und Dela schloss die Augen.
»Ich brauche deine Erlaubnis«, flüsterte er.
»Sag mir zuerst eines«, brachte sie schließlich heraus. Es fiel ihr nicht leicht zu sprechen. »Warum dieser Sinneswandel? Warum hasst du mich nicht mehr?«
Er wirkte verlegen. »Ich habe versucht, dir nicht zu vertrauen, habe mich dagegen gewehrt, dich zu mögen. Hass bedeutete immer Sicherheit, Delilah. Man hat mich so sehr verletzt, dass es immer einfacher war, das Schlimmste zu erwarten.«
»Aber?«
Er seufzte. »Aber ich bin kein gebrochener Mann, und alles, was du getan hast, deine Handlungen und deine Worte, haben mich daran erinnert. Ich habe schon seit sehr langer Zeit an nichts mehr geglaubt, Delilah, aber ich glaube, nun fange ich an, an dich zu glauben.«
Es war das größte Kompliment, das ihr jemals jemand gemacht hatte. In seiner Stimme aber schwang ein Unterton mit, der sie erstarren ließ.
»Du wartest darauf, dass ich einen Fehler mache, stimmt’s?«
»Etwas in mir erwartet es, ja«, gab er zu. »Es ist eine alte Gewohnheit, die sich auf Erfahrung gründet.«
Haris Worte verletzten Dela zwar, aber sie war doch nicht wirklich überrascht. Sein
Weitere Kostenlose Bücher