Tiger Eye
an.
»Delilah?«
»Es ist nichts«, sagte sie. »Nur eine schlechte Erinnerung.«
Hari sagte nichts dazu, aber seine Augen verdunkelten sich wissend. Mit seinem langen Arm griff er um sie herum nach der Speisekarte des Zimmerservice, die auf dem Nachttisch lag. Dela sah sie einen Augenblick lang an, hin und her gerissen zwischen Furcht und Sehnsucht.
»Ich habe noch immer nicht diesen Spaziergang mit dir gemacht, den ich dir versprochen habe«, sagte sie, als sie sich schließlich entschlossen hatte, in den Abgrund zu springen. »Außerhalb dieses Hotels gibt es viel Welt, die du sehen solltest.«
»Das ist zu gefährlich.« Hari blickte aus dem Fenster. Es war Nacht geworden, und die Lichter der Stadt funkelten silbrig, vermischt mit einem Regenbogen aus Neonfarben.
»In diesem Zimmer ist es auch gefährlich«, erklärte Dela. Sie brauchte unbedingt frische Luft und musste aus diesen vier Wänden heraus, in denen sie sich wie in einer Mausefalle fühlte. »Kein Ort ist sicher, jetzt nicht mehr.«
»Du bist leichtsinnig«, sagte Hari, aber er klang nicht böse. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Dela lächelte ein wenig bebend, und er seufzte. »Also gut. Wir gehen spazieren und essen was.«
Sie standen auf, und während Hari ins Bad ging, schaltete Dela die Lampen und das Fernsehgerät an.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte er, als er wieder zurückkam. »Als ich dich ins Hotel getragen habe, habe ich alle Kleidungsstücke stehen gelassen, die du mir gekauft hast.«
»Das dachte ich mir schon. Außerdem weiß ich nicht, wie ich mich gefühlt hätte, wenn du die Geistesgegenwart besessen hättest, in dieser Situation auch noch an unsere Einkaufstüten zu denken.«
Er wollte etwas erwidern, doch dann fiel sein Blick auf das
Fernsehgerät. Dela erklärte ihm die Funktion und schaltete durch die Programme. Auf dem Filmkanal des Hotels lief gerade Gladiator, und Hari beugte sich vor, als Maximus im Kolosseum auftrat.
»Rom?«, fragte er, ohne die Szene vor sich aus den Augen zu lassen.
Dela blinzelte vor Überraschung, als ihr Haris merkwürdiges Leben erneut bewusst wurde. »Es ist eine Rekonstruktion von Rom, ein Film, eine Geschichte.«
»Allerdings sehr lebensecht.« Hari sah besorgt zu, als die Gladiatorenspiele begannen. »Ich erkenne einige Unterschiede, aber sonst ist es sehr ähnlich. Ich war dort, Delilah, am Anfang meiner Gefangenschaft. Ich war in der Arena sehr beliebt, aber mein Meister hat sich mit seinen Wetten zu viele Feinde gemacht und wurde dann in seinem Haus ermordet.«
Er zögerte, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit bis zu meinem nächsten Ruf verstrichen ist, aber als es wieder so weit war, hatten die Goten und andere Barbarenstämme schon angefangen, Rom zu erobern. Mein Meister war diesmal der Imperator selbst, Valens. Er brauchte dringend etwas Glück. Als er mich rief, diente ich als sein Leibwächter, meist aber kämpfte ich mit meiner Armee. Wir wurden schließlich vor Adrianopel von den Goten besiegt, die unsere Flanke angriffen, während wir uns auf irgendwelche Westgoten konzentrierten. Es war eine schreckliche Schlacht, so viel Blutvergießen. Der ganze Boden war davon bedeckt und glitschig. Mein Meister starb, und ich kehrte in die Schatulle zurück.« Schließlich sah er Dela an. Die Haut um seinen Mund war angespannt. »Die Ironie aber war, dass mein nächster Meister ein Gote war. Doch auch er lebte nicht lange.«
Hari wollte nicht weiter fernsehen, also gingen sie.
In der Nacht legte sich ein kühler Wind über die Stadt. Sie schlenderten vom Hotel über den breiten Bürgersteig, der parallel zum Jianguomenwai verlief, die Hauptstraße, die zum Tianamen Square und der Verbotenen Stadt führt. Unter den gigantischen Türmen ihres Hotels und des Trade Centers tauchten die Neonröhren von Haägen Dazs und KFC ihre Gesichter in rot-weiß-goldene Farben. Autos rasten neben ihnen über den breiten Fahrradstreifen, obwohl das verboten war, hupten und wichen den Fahrradfahrern aus. Die Luft stank nach Fett und Abgasen. Hari verzog die Nase, offensichtlich wenig beeindruckt von gewissen Aspekten des modernen Zeitalters.
Aber auch der Gestank konnte ihn nicht davon abhalten, seine neue Umgebung mit wachem, ehrfürchtigem Interesse zu beobachten, und er fragte Dela ausgiebig nach allem aus, was er sah. Wolkenkratzer, Autos, Straßen, Politik, Kultur... nichts war bedeutungslos. Er gierte nach Wissen, und Dela
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