Tiger Eye
bedeutete, dass er nicht ohnehin Aufmerksamkeit erregte. Er sah einfach umwerfend aus.
Auf dem Weg zum Flughafen versuchte jedenfalls niemand, sie umzubringen, und auch beim Einchecken wurden keine Messer in ihre Richtung geschleudert. Haris Rüstung und Waffen lagen sicher verpackt in Delas Koffer. Er hatte sein Miss-
fallen über dieses Arrangement sehr beredt zum Ausdruck gebracht, aber Dela hatte sich nicht darum gekümmert. Ein Ping von dem Metalldetektor, und die Sicherheitsbeamten des Flughafens würden wie Fliegen auf rohem Fleisch an ihnen kleben.
Zum Glück waffenlos - Dela hatte Hari mental »durchsucht«, nur um sicherzugehen - warteten sie sich ohne Schwierigkeiten durch die Sicherheitschecks und den Zoll, und Haris Reisepass hielt auch der scharfen Prüfung stand. Als sie den letzten Sicherheitsbeamten passierten, löste sich ein Knoten in Delas Magen. Sie hätte keinen guten Notfallplan parat gehabt, falls jemand Hari beiseitegenommen und ihn nach den Ereignissen auf dem Dreckmarkt befragt hätte. Entweder, so schien es ihr, ließ die chinesische Bürokratie allmählich nach, oder aber die Zeugen des Angriffs hatten ein lausiges Gedächtnis.
Da sie bis zum Einstieg noch Zeit hatten, entspannten sie sich in der Erste-Klasse-Lounge, tranken Tee und aßen Dim Sum. Dela beobachtete, wie Hari mit seiner Teeschale und den Stäbchen umging und beides mit seinen großen Händen anmutig hielt.
Er hatte wunderbare Manieren. Dela konnte sich an keine Situation erinnern, in der er nicht Klasse und Anmut gezeigt hätte, selbst als er mit den Händen aß. Sie fragte sich, wo er das gelernt hatte - oder ob es vielleicht angeboren war?
»Wie viel Zeit hast du denn sonst so außerhalb der Schatulle verbracht, wenn du gerufen wurdest?« Die Lounge war nur spärlich besucht, und Dela saß mit Hari in der entlegensten Ecke. Trotzdem flüsterte sie.
Haris Blick wurde nachdenklich. »Die längste Zeit, die ich in Freiheit verbrachte, waren zehn Jahre. Dieser Meister war ein niederer Kriegsherr aus der Steppe, der mich gegen feindliche Clans einsetzte. Er hat schließlich genug von ihnen vereinen können, um eine Armee gegen China auszuheben. Aber nach der Invasion hat er nicht mehr lange gelebt.«
Er klang gelassen, aber Dela versuchte sich vorzustellen, was Hari alles durchgemacht hatte, dachte an die Ereignisse, die er mit eigenen Augen gesehen haben musste, Orte und Menschen, von denen moderne Historiker nur träumen konnten. Sie fühlte die Verlockung des Unbekannten - und die der gelösten Rätsel. Es fiel ihr schwer, Hari nicht mit Fragen zu löchern. Seine Erinnerungen waren unerfreulich, das wusste sie - und sah es auch an seiner unglücklichen Miene. Trotzdem gierte sie danach.
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Dela schließlich. »War es immer schrecklich?«
»Nicht immer, nein. Aber ich habe den größten Teil dieser Zeit im Kampf verbracht. Mein Meister war in dieser Hinsicht nicht anders als die anderen. Er glaubte, dass ich weder Nahrung noch Ruhe brauchte. Ich war für ihn ein Geist, die Essenz der Macht. Wenn ich aß oder schlief, würde das Verletzlichkeit offenbaren, Schwäche. Also lernte ich, so lange wie möglich ohne beides auszukommen, ich aß, wenn ich konnte, und schlief, wenn ich nicht benötigt wurde. Das tat ich zehn Jahre lang, und es hat meinen Körper und meinen Geist abgehärtet. Ich nehme an, das war nicht schlecht. Nach diesem Meister wurde mein Leben schwieriger.«
»Und das war alles?«, fragte Dela entsetzt. »Kämpfen, als Waffe benutzt werden? Hast du denn in all der Zeit, die du gerufen wurdest, niemals Freude erlebt?«
»Sie konnten mich nicht brechen«, flüsterte Hari. »Also erinnerte ich mich an die Freude, nahm sie, wo ich sie fand, in einem Bissen, in dem blauen Himmel, im Wind. Ich empfand Freude dabei, die Kinder meiner Meister zu beschützen, die ja an allem unschuldig waren. Ich lebte von Augenblick zu Augenblick, und nur so konnte ich auch überleben. Ich«, sagte er und berührte seine Brust. »Nicht nur mein Körper. Sondern ich.«
Dela nahm Haris Hand. Sie fühlte die Kraft in seinem Griff, die ungeheure Stärke, aber seine Finger waren fast schmerzend zärtlich, als er sie um ihr Handgelenk schloss und ihre Haut streichelte.
»Und jetzt?«, fragte sie leise.
»Ich lebe immer noch von Augenblick zu Augenblick«, erwiderte er. »Aber jetzt lebe ich in Freude.«
Dela verschlug es den Atem, als ihr plötzlich heiß wurde und sie fühlte, wie sie
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